Podium International: Boris Pahor


   

„Alles in allem bin ich ein glücklicher Mensch“

Boris Pahor, ein in Triest geborener Slowene, der in Padua studierte, italienische Literatur unterrichtete, seinen Kriegsdienst in Libyen und seine Tätigkeit als Gefangenendolmetscher am Gardasee hinter sich hatte, wurde von der deutschen Geheimpolizei im Januar 1944 wegen ein paar Zeitungsartikeln in das „Todesreich“ verschleppt. Boris Pahor überlebte fünfzehn Monate in fünf unterschiedlichen Konzentrationslagern: Dachau, Natzweiler (in den Vogesen), Dora-Mittelbau und Harzungen, Bergen-Belsen.
Er hielt sich nicht an Gott, sondern an Bücher. Bei seinem Lieblingsautor Albert Camus hatte er den rätselhaften Satz über Sisyphos gelesen, „den wir uns trotz allem als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen“. Boris Pahor möchte, dass man sein Überleben und seinen Überlebensbericht im Camus’schen Sinn versteht. Es ist ein Ausschnitt aus dem Bösen im 20. Jahrhundert und gleichzeitig auch ein Anlass, das Leben zu lieben.

 

Wer „Nekropolis“ liest, hat tatsächlich Grund, jede Sekunde seines guten bequemen Lebens zu lieben! Der in Ich-Form verfasste Bericht, der mich so beeindruckt hat wie selten ein Buch über den Holocaust, erschien 1967 im slowenischen, damals jugoslawischen Maribor. In Frankreich und in den USA sind Pahors Bücher hoch angesehen. Sein Name wird zu Recht zusammen mit Primo Levi, Imre Kertész und Robert Antelme genannt. Aber es hat lange gedauert, bis ein deutscher Verlag dieses Buch übersetzen ließ, vielleicht weil wir tief und doppelt tief Luft holen müssen, um „Nekropolis“ zu lesen. Aber es ist ein Fehler, vielleicht sogar ein Vergehen gegenüber unserer Vorstellungswelt, wenn wir dieses Buch ignorieren. Es ist schonungslos, aber ohne Schuldzuweisung und sehr konzentriert geschrieben, Abschweifungen gibt es nicht. Auch nicht in den allgemeinen Lageralltag und seine Rituale. Es gibt keine Möglichkeit, Pahors furchtlosem, direktem Blick auszuweichen. „Weder Tod noch Liebe ertragen Zeugen“, schreibt der nüchterne Biograf.
Boris Pahor schildert, wie er Anfang der sechziger Jahre als fünfzigjähriger Mann in Natzweiler in den Vogesen vor seinem Campingwagen sitzt und hört, wie seine jugendlichen Nachbarn in den umliegenden Zelten die Liebe üben. Er selbst fühlt sich erschöpft und kraftlos. Es waren schwere Stunden. Schwer, weil er mit anderen Touristen die Gedenkstätte Natzweiler besichtigte und wieder die gestreifte Jacke über seinen Schultern fühlte und die Holzschuhe an den Füßen. Sein Leben, denkt er während der Führung, wird da besichtigt, sein Leben wird von einem Gedenkstättenführer erklärt. Aber das ist nicht sein Lagerleben.
Boris Pahor ist einer aus der Menge und ein Chronist, der den Bildern nicht erlaubt, bis zu seinem Herzen vorzudringen. Er spricht über die Angst, die sein Nervensystem lähmte und verhinderte, dass er sich in die damalige Wirklichkeit einlebte. Während des Tages unter den Touristen in Natzweiler erkennt der ehemalige Häftling Pahor die Bedeutung von Denkmälern. Sie bewahren, schreibt er, vor dem „menschlichen Vergessen“, vor der „Unzulänglichkeit unserer Fantasie“ und vor der „Unstetigkeit unseres schwankenden Bewusstseins“. Eingeschlossen in seine gewaltige Aufgabe wusste er wenig über das „Verderben woanders“, in Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen. Die späteren Zeugenaussagen waren für ihn „ungeheuerliche Enthüllungen“.
„Nekropolis“ ist auch ein Buch über Freundschaft, Selbstdisziplin und Selbstschutz. Freundschaft nur für den Augenblick. „Ich habe bloß geschaut“, schreibt Pahor, „mit weit geöffneten Augen“. Mit denselben Augen beobachtet der Zeuge zwanzig Jahre später auf dem Campingplatz in Natzweiler die „zeitgenössischen Wallfahrer“ und fürchtet, nicht die richtigen Worte zu finden, um seine Vergangenheit zu erklären. Boris Pahor, der in Triest lebt, hat sie in „Nekropolis“ gefunden. Boris Pahors Besuch beim Erlanger Poetenfest ist ein besonderes Ereignis.
Verena Auffermann

 

Termin:
– Sonntag, 1. September, 19.00, Markgrafentheater, Podium International: Boris Pahor

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