Das Autorenportät: Dieter Kühn


   

„Frau Merian! Und ich. Also viele“

Das Studium Robert Musils eröffnete Dieter Kühn die Einsicht in den „Möglichkeitssinn“ von Lebensläufen. Die Grenze, die zwischen dem geschichtlich verbürgten Material und der Fiktion, zwischen Dokument und seiner Erfindung, von Historikern scharf gezogen wird, ist in seinem Werk der Impuls für eine stets andere und originelle Überschneidung. Kühn hat schon in seinem ersten Prosabuch „N“ (1970) mit den virtuellen Chancen des je anderen Verlaufs experimentiert. Der Aufstieg Napoleons wird erzählt als biografischer Versuch, in den die virtuellen Möglichkeiten dieser Lebensgeschichte von der Geburt bis zur Machtübernahme des 18. Brumaire eingelagert sind. Seine vielen Bücher ergeben zusammen ein groß geartetes Spiel der Existenzen in ihrer real beglaubigten Fassung und in ihrer Spielform des Wunsches, der Utopie, der ironischen Verfremdung, der heiteren Verzeichnung und der unterhaltsamen Übermalung. So hat er die Geschichte eines Realschullehrers mit „Schaltstellen“ des Andersseins durchmustert, mit dem Roman „Die Präsidentin“ ein ausuferndes Simulationsspiel über die Wirtschaft und die Börse entwickelt, an Josephine Baker die Fabrikation einer öffentlichen Biografie studiert, hat bei Gestalten, für die keine lebensgeschichtlichen Fakten überliefert sind, eine hypothetische Form gefunden. Er schickte Beethoven in Begleitung des Mulatten Bridgetower auf eine Seereise in den Senegal. Seine unglaubliche Produktivität, vor allem an Prosa und Hörspielen, erwarb sich auch die Großfiguren der mittelhochdeutschen Literatur in Biografie, Zeitstudie, Lyrikdeutung und Übersetzung. Seine Bücher über Oswald von Wolkenstein und Neidhart nehmen die Forschungsbedingungen und die Recherchenlage in die Darstellung auf; sie und die Übertragungen etwa des „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach und des Epos’ „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ erweisen ihn als einen ausgezeichneten Philologen. Sein neuester biografischer Roman entwirft die Lebensgeschichte der Maria Sibylla Merian, eine der vielgestaltigsten Frauen des 17. Jahrhunderts: Naturforscherin, Blumen- und Insektenmalerin mit fotografischer Genauigkeit, Reisende in exotische Länder und Abenteurerin.
Im Gespräch öffnet Dieter Kühn die Wunderkammern seiner historischen Neugier und erzählt von der Lust des Entdeckers fremden Lebens.
Wilfried F. Schoeller

 

 

Im Anschluss an Lesung und Gespräch wird der Film „Eine Reise nach Surinam“, 1993, gezeigt, den das ZDF in Auftrag gab, als Dieter Kühn Stadtschreiber von Mainz war. Es entstand eine Art Spielfilm über die Merian, die Dieter Kühn damals schon faszinierte

 

 

Termin:
– Freitag, 30. August 2002, 20.30, Markgrafentheater, Das Autorenporträt: Dieter Kühn

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