Porträt International: Paul Nizon


   

Erstausgabe der Gefühle

Paul Nizon wurde am 19.12.1929 in Bern geboren – als Sohn eines russischen Emigranten aus Riga, von Beruf Chemiker, und einer Bernerin. Nach dem Abitur und ersten Reisen nach Italien studierte er von 1951 bis 1955 in Bern und München Kunstgeschichte, Archäologie und deutsche Literaturgeschichte. 1959 erschien sein erstes Buch, der Kurzprosaband „Die gleitenden Plätze“. 1960 reiste er mit einem Stipendium des Schweizer Instituts nach Rom. Er lernte Max Frisch kennen, der weit zurückreichende Entschluss, als Schriftsteller zu leben, festigte sich. 1961 wurde er Leiter der Kunstkritik-Redaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ und siedelte nach Zürich um. Nach acht Monaten gab er die Kritikertätigkeit wieder auf, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. 1962 las er in Berlin vor der „Gruppe 47“ aus dem Roman „Canto“, der 1963 erschien. Häufig reiste er in die europäischen Metropolen, nach Barcelona, nach London, wo er Elias Canetti kennen lernte, nach Paris und immer wieder nach Italien, aber auch nach Ostasien (1975) und in die USA (1978). Das Reisen gehört gleichsam zu den literarisch existenziellen Grundlagen dieses Autors. 1977 verließ er die Schweiz, um fortan in Paris zu leben. Schon die Prosastücke des Bandes „Die gleitenden Plätze“ sind sprachmächtige Aufbrüche ins Unbekannte, Skizzen des Unterwegsseins, auf Reisen nach Italien, in Träumen um Mädchen und Frauen, in Naturbetrachtungen, die aus der Enge des Alltags herausführen und das Weite, das Fremde ahnen lassen, nicht zuletzt bei Spaziergängen durch die Heimatstadt, bei denen die Beobachtungen von Landschaften, Gebäuden und Menschen zu Bildern gerinnen, die zwischen Traum und Wirklichkeit, Erlebtem und Gedachtem changieren. Sein zweites Buch „Canto“ ist ein mehrstimmiger, lyrisch gesteigerter Gesang auf Rom und das Leben, der Versuch, die Gleichzeitigkeit von staunendem Suchen, Fühlen, Denken und Hören unmittelbar in Sprache zu übersetzen, mit der Bilderflut der Existenz in der Metropole eins zu werden. Eingeflochten in diesen Sprach- und Traumfuror der Annäherung ist die Erinnerung an den Tod und das Begräbnis des Vaters. Ein so ichbezogenes Buch, verletzend persönlich und subjektiv in der Lebensgier, konnte 1963 keine Anerkennung finden. Erst in späteren Auflagen entdeckte man gerade in dieser gesteigerten Subjektivität und hochsensiblen Wahrnehmung die Qualitäten, nahm man die Schule des Sehens wahr, in die Nizon bei van Gogh gegangen ist, und die Präfiguration durch die frühe Beschäftigung mit Robert Walser. 1971 erschien der zweite Roman, „Im Hause enden die Geschichten“. Darin erzählt Nizon am Beispiel seines Berner Geburtshauses und seiner Bewohner vom häuslichen Stillstand und vom Sterben des Vaters. Das Haus ist ihm die Metapher für das Geschlossene, Begrenzte, Eingefahrene schlechthin. Dagegen steht die Stadt, die Metropole, das Offene. Sie setzt das Schreiben in Gang, verhilft dem Autor, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu ertragen und an ihrer Überwindung zu arbeiten. Schreiben ist für Nizon Leben und umgekehrt. Die Angst, das eine oder das andere könnte ins Hintertreffen kommen, ist immer vorhanden. Ihr hat Nizon in dem Roman „Stolz“ von 1975, der seine Studienzeit in Bern und München, seine erste Ehe und einen Arbeitsaufenthalt im Spessart verarbeitet, beispielhaft Ausdruck gegeben. Und noch die Erzählung „Hund. Beichte am Mittag“ (1998) macht die heikle Gratwanderung zum Thema. In Paris, wo schon van Gogh in die Welt fand, lebt Nizon heute, in Frankreich als Schriftsteller hoch angesehen und geehrt. Sein Paris-Roman „Das Jahr der Liebe“ (1981) ist vielleicht sein Opus magnum. Hier begibt sich der Stadtstreicher als Dichter auf die Suche nach sich selbst, der Liebe und der Verheißung der Stadt – und lernt dabei auch die Fröste der Freiheit kennen, die Einsamkeit und das Gefühl der Verlorenheit. 1989 erschien „Im Bauch des Wals“, Erzählungen, die Nizon als Capriccios bezeichnet, virtuose Musikstücke in freier Form, weil auch hier musikalische Elemente die Strukturen des Erzählens bestimmen. 1995 erschien das Journal „Die Innenseite des Mantels“. Es spannt den Bogen zwischen den beiden Erzählwerken „Das Jahr der Liebe“ und „Im Bauch des Wals“ in Form von Notizen aus dem Alltag, von Begegnungen mit literarischen Freunden, Äußerungen zu Vorbildern und Konkurrenten, von Träumen und Lektüren dieser Jahre von 1980 bis 1989. Inzwischen wurde ein Tagebuchprojekt in mehreren Bänden in Angriff genommen, in dem das Material von „Die Innenseite des Mantels“ im Rahmen des Gesamtprojekts neu gesichtet wird. Der erste Band des Projekts ist im Jahr 2002 erschienen, der zweite Band erscheint im Herbst 2004. Es erzählt von den Versuchen Paul Nizons, sich gegen alle Widerstände seiner Identität als Schriftsteller zu vergewissern und diese Identität in der eigenen Existenz zu begründen. Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, der Atombombenängste, des Kalten Kriegs zwischen Ost und West und der Studentenbewegung entwickelt Nizon seine Gedanken zur Zeit, zur Kunst, zur Literatur und zum eigenen Schreiben. Nizon äußert sich u.a. zu Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Elias Canetti, Walter Benjamin, Franz Kafka, Robert Musil, Henry Miller, Thomas Wolfe und Leo Tolstoi. Ein europäischer Erzähler von Rang ist in seinen Anfängen zu entdecken.
Beitrag (gekürzt) von Wend Kässens aus: Thomas Kraft (Hg.), Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
© 2003 by nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Im Anschluss an Lesung und Gespräch werden verschiedene Fernsehporträts der letzten 20 Jahre über Paul Nizon gezeigt.

So, 29.8., 20.30 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,– /erm. 3,50 bis 9,50 /erm. 8,– Euro