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Foto: Bettina Flitner |
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Ich kann
meinen Kopf nicht ins Schließfach legen, ich muss damit weiterdenken
Herta Müllers Werk hat die Gestalt eines Kreises.
Seit dem Erscheinen von „Niederungen“ im Jahr 1984, hat der
Kreis viele Ringe bekommen. Doch alle Ringe umrunden das gleiche Zentrum:
Die Diktatur und Rumänien. Ich sage mit Absicht nicht „eine
rumänische Diktatur“, Regime dieser Art sehen einander ähnlich.
Dennoch haben mir Herta Müllers Bücher Ceaucescu und „sein“
Rumänien erklärt. In „Niederungen“ unterstrich ich
damals Sätze wie diesen: „Ich wollte etwas sagen, aber ich
hatte den Mund so voller Zunge, daß ich kein einziges Wort hervorbrachte“,
oder „Die Kälte verstauchte mir die Backenknochen. Ich hatte
kalte Zähne“.
Aber nicht nur das. Ihre Bücher haben mir das Wesen der Diktatur
im Wortsinn „nahe gebracht“, besonders eindringlich empfand
ich den Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“.
Hier geht es um Zersetzung, Zersetzung als Vorstufe der Zerstörung,
Zersetzung von Freundschaften. Dann werden Menschen sich „selbst
zu einem Fehler“. Ihre Schilderungen solcher Mechanismen sind beharrlich:
auch im Zeittakt der Wiederholung. Eindringlich auch in den Wortbildern.
Dramatisch: auch in der Abbildung realer Ereignisse. Ihre Prosa ist kompakt.
Ein Satz von ihr kann hundert Seiten überflüssig machen. Kann
man sich nicht alles vorstellen, wenn man einen Satz wie diesen liest:
„Das Dort steht wie eine Kiste in der Gegend“. Herta Müller
baut Sätze wie gut gebaute Häuser.
Herta Müller lebt seit 1987 in Deutschland, in
Berlin. „Angekommen, wie nicht da“, heißt es im Prosaband
„Barfüßiger Februar“. Oder: „Bleiben zum
Gehen“. „Wo ist dieser Ort?“ Sie wacht über ihre
Erinnerung, sie braucht ihre Erinnerung. Die Erinnerung ist ihre Intimsphäre,
sie hütet sie eifersüchtig. „Man muß zwischen Erinnerungen
unterscheiden“, hat Herta Müller gesagt, und das hat mich sehr
beeindruckt: Wendest du dich den Erinnerungen zu, oder kommen sie zu dir?
Der Westen mit seinen Sprachmustern und Sittenbildern hat sie nicht abgelenkt,
die Gedächtnishalde ist in ihrem Besitz geblieben. Geschichte, denn
von wenig anderem ist in ihren Büchern die Rede, braucht ein Gedächtnis.
Der fiktionale Charakter ihrer Romane sitzt fest auf dem Grund wahrer
Begebenheiten. Die Müller-Gemeinde – sie ist groß, nicht
nur in Deutschland – sie weiß, was erzählt wird, kennt
die Motive, zu denen die scharfe, schwere und überaus genaue Prosa
führen. Sie kennt die Utensilien: Schlüssel, Koffer, Melonenkerne,
kennt den Typus des Untermieters. Sie kennt die Vornamen der Freundinnen,
die zu Verräterinnen werden: Amelie, Liza, Irene, Adina, Clara, Lola,
Tereza. Sie kennen den alten Windisch, kennen Rudi, Liviu, Edgar und Georg.
Tereza in „Herztier“ kann sich wie Clara in „Der Fuchs
war damals schon der Jäger“ den Bestechungen eines Securitat-Offiziers
nicht widersetzen. Verrat der Freundschaft war ein Höhepunkt der
Erniedrigungspraxis.
Schreiben ist eine Tätigkeit permanenter Preisgabe. Herta Müllers
Bücher sind Geschichtsbücher und Literatur.
Ihre Person stellt sie so vor: „1953 bin ich in Nitzkydorf geboren,
das Jahr, in dem Stalin körperlich starb – geistig lebte er
noch viele Jahre“. „Das Dorf“, sagte sie weiter, „liegt
im rumänischen Banat, zwei Autostunden zu Belgrad oder Budapest.
Eine Bauernbevölkerung, weiße, rosa, hellblaue Giebel –
oder Triangelhäuser in symmetrisch laufenden Straßen. Mein
Vater haßte Feldarbeit und wurde, als er 1945 aus der SS nach Hause
kam, LKW-Fahrer und Alkoholiker. Auf Feldwegen geht das zusammen. Meine
Mutter war und blieb Bäuerin auf den Mais- und Sonnenblumenfeldern.
Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat
Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter
schneiden bei der Arbeit in die Hände. Im Maisfeld wird man an einem
einzigen Tag vom Kind zum Greis. So erkläre ich mir, daß meine
Mutter schon mit Ende zwanzig für mich eine alte Frau war ...“
Als Herta Müller in einem Alter war, in dem man sich Berufe wünscht
und ausdenkt, wollte sie Schneiderin oder Friseurin werden. Beide Berufe
haben mit dem Abmessen und dem Abschneiden zu tun. Mit der Schere bearbeitet
sie Texte und zerschneidet Sätze in Zeitungen und Zeitschriften für
ihre Collagen.
Bücher gab es bei ihr zu Hause keine, nur Gebetbücher und die
„Deutsche Lebensschule“ und Kühe, die das Kind hütete.
Das Wort „Einsamkeit“ fehlt im banater Dialekt. Sie war „allein“.
Allein ist erbarmungsloser als einsam. So richtet Sprache Gefühle.
Der Westeuropäer versteht unter nationaler Identität etwas grundlegend
anderes als der Mittel- und Osteuropäer, und jeder merkt bei dem
anderen das Negative. Aber negativ nennt er, was ihm selbst am meisten
fehlt. Der Osteuropäer ist bestrebt, sich vom „seelenlosen
Rationalismus“ abzugrenzen, von Dingen, vor denen seine Abscheu
eigentlich überflüssig ist, weil er gar keine Gelegenheit hatte,
sie zu praktizieren. Der Westeuropäer hört nicht gern die metaphysischen
Schicksalsfragen, die apokalyptische und fatalistische Sicht. Er ängstigt
sich. Auch vor der Sprache Herta Müllers. Sie zieht das Blatt vom
Mund weg, aber nicht, um über die Sprache brachial herzufallen. Sie
befragt die Fragen, sie prüft den Sinn, sie verweigert den angeblich
rationalen Zwangszusammenhang. Dass Sprache und Biographie zusammenhängen,
diese These löst das Werk Herta Müllers ein. „Ich kann“,
sagte sie in einem Interview, „meinen Kopf nicht ins Schließfach
legen, ich muß damit weiterdenken. Ich habe über dreißig
Jahre in einer Diktatur gelebt, ich werde – das wird sich wahrscheinlich
nicht ändern – alles, seitdem ich im Westen lebe, was ich zur
Kenntnis nehme, worüber ich mir Gedanken mache, nicht völlig
von dem Problemkreis abtrennen können, den ich mitgebracht habe.
Und Erfahrungen setzen sich ja auch immer fort, lernen heißt ja,
man verknüpft eines mit dem anderen“. Sie schreibt nicht über
ihr Privatleben, nicht über Liebesglück und Unglück, und
über Wohnungen nur soviel, dass die deutschen leeren Wohnungen sie
im Anfang sehr irritiert haben. Aber wie sie lebt, das bleibt Privatsache.
Eine Adresse in Berlin und oft auf Reisen. Ihre Bücher sind in 20
Sprachen übersetzt.
Verena Auffermann
Sa, 28.8.2004, 20 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,–/erm. 3,50 bis 9,50/erm. 8,– Euro
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