Das Autorenporträt: Wolf Wondratschek



   

„Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“

Eine berühmte Tänzerin leidet an der schwindenden Kraft ihres Körpers und reißt sich in einer Verzweiflungstat im Dienstzimmer des Staatsoperndirektors die Kleider vom Leib. Ein Filmregisseur und ehemaliger Frauenheld hat auf nichts mehr Lust und ist zu allem Unglück auch noch dabei zu erblinden. Eine russische Emigrantin geht statt ins Kino zum Ballett oder ins Theater, geht nur noch „die eine oder andere Methode“ durch, sich ins Jenseits zu befördern. Ein Schriftsteller erlebt seinen „letzten Knaller“ – der kommt freilich aus der Spielzeugpistole eines Kindes. – Eine Handvoll Künstlerfiguren stehen im Zentrum von vier Geschichten, die Wolf Wondratschek unter dem Titel „Die große Beleidigung“ im Jahre 2001 veröffentlichte. Es war das große Comeback eines Schriftstellers, der in den sechziger und siebziger Jahren vor allem mit Lyrik sensationelle Erfolge beim Publikum erzielte.
Wolf Wondratschek, 1943 in Rudolstadt/Thüringen geboren, ist laut „Spiegel“ der „erste SDS-Genosse, der diskutable Belletristik präsentierte“. Diskutabel? Wondratschek ist einer der wenigen deutschen Schriftsteller der Gegenwart, die Star-Appeal genossen. 1969 legte er den „pistolesken“ Prosaband „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“ vor, die über den Versand Zweitausendeins vertriebenen Gedichtbände „Chuck’s Zimmer“ (1974) und „Das leise Lachen am Ohr eines andern“ (1976) genießen noch heute den Status von Kultbüchern. Ein großes episches Poem mit vielen autobiografischen Bezügen sorgte unter dem Titel „Carmen oder Bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“ 1986 für Aufsehen.

 

Und nun, über zehn Jahre danach, ist Wondratschek der Liebling der Kritiker, die Lichtfigur von Intellektuellen und Nichtintellektuellen, die sich, wie sie, für das Boxen interessieren wie andere für Fußball. Wondratscheks Geschichten in „Die große Beleidigung“ handeln vom Versiegen der kreativen Kräfte, der Anfälligkeit des Künstlers für die unbarmherzigen Zeichen des Altwerdens, der „Lähmung aller Lebensgeister“, dem Ziehen des Huts vor dem sich ankündigenden Tod. Und wenn der Schnitter naht, lässt es sich nicht mehr munter drauf los erzählen, hübsch linear und allwissend. Deshalb hat Wondratschek auf Story, Plot und so fort verzichtet. Eine sowohl literarisch als auch philosophisch nachvollziehbare Entscheidung.
Wir haben es mit Motiven zu tun, die traditionellerweise eher zu Wien als nach München passen, ganz zu schweigen vom supervitalen Berlin. Wien – das ist nach langen verspielten Jahren in München seit 1996 nicht nur der Wohnort des melancholisch geworde-nen Bohemiens Wondratschek –, Wien, das ist auch der Ort, an dem alle vier Erzählungen spielen, oder besser: an dem sie stattfinden. Es sind allesamt Texte vom Abschiednehmen, Abschied von der Kulturschickeria, Abschied von Eitelkeit und Größenwahn, von einer zur Raserei neigenden Szene. Es sind leise, langsame Texte, wie wir sie von einem Wolf Wondratschek noch nicht gelesen haben. Eher Meditationen als Erzählungen. In seinem bis dato einzigen Roman, einer Millionärsgeschichte aus dem Rotlichtmilieu („Einer von der Straße“), hatte es ganz schön gelärmt. Eitelkeit, Koketterie? Keine Spur mehr davon. Selbstironisch sprach Wondratschek in einem seiner Wiener Gedichte noch von der „Pose des Verschwindens“. Seine poetische Prosa kommt heute ohne jede Pose aus.
Und dann noch dies, die Titelgeschichte des Buchs: Ein hoch begabter Geiger, ein Virtuose seines Fachs, leidet an einer „Lampenfiebererkrankung“. Er leidet so heftig, dass er keine Konzerte vor Publikum mehr geben kann; er kommt in die Nervenheilanstalt. Am Ende spielt er als fiedelndes Privateigentum für einen musikversessenen Schweizer Bankier auf. Nicht nur für ihn, den Geiger Viktor Auermann, ist das Leben keine Kunst mehr und die Kunst nicht mehr das wahre Leben – es ist alles, um mit der Titelerzählung zu sprechen: „Eine große Beleidigung“.
In seinem ersten wirklichen Alterswerk, einem Alterswerk ohne sentimentale Verklärung, aber mit viel Wehmut geschrieben, meint es Wondratschek ernst, mit sich und seiner Vergangenheit. Keine Spleens mehr, kein Tratsch, keine Wichtigtuerei, keine Faxen, die noch bleibende Zeit ist zu kurz für „romantische Vorstellungen“, Größenwahn und andere Erektionen. Wondratschek ist heute tatsächlich ein „altmodischer Schriftsteller“. Nicht nur sein Wien ist, wie es einmal heißt, eine „Versuchsanstalt für Vergangenheit“ –, er selbst ist es auch. Das Schöne ist: man merkt seinen Texten den Ruck ins Altmodische an. Er findet sich mit dieser Rolle nicht nur ab, sie gefällt ihm. Er will nicht mehr verletzen, er ist selbst der Verletzte. Dies kundzutun, ist sein Recht, ist sein literarisches Pathos. Wondratschek erzählt mit einer wunderbaren Gelassenheit. Heiterkeit, nicht Resignation bestimmt die Gemütslage der Texte.
Das gilt auch für sein jüngstes Buch. „Mozarts Friseur“ erschien in diesem Jahr wie schon der Vorgängerband bei Hanser. Die Hauptrolle spielt hier ein Friseur, der in Venedig Perückenmacher werden wollte, am Ende aber in Wien Karriere machte. Sonderbare Käuze bevölkern seinen Laden, Typen, die sich zwar auch die Haare schneiden lassen wollen, vor allem aber: Kaffee trinken, diskutieren und disputieren, lästern und tratschen. Prominentester Gast ist Mozart. Er lässt sich, zweihundert Jahre nach seinem Ruhm, einen rabiaten Kurzhaarschnitt verpassen.
„Die Zeit“ schrieb über dieses wunderbare Buch: „Auf die Habenseite gehört gewiss Wondratscheks narrative Assimilation ans glänzende und schillernde Wiener Kulturmilieu. Sein Friseur stammt aus der von Märchen und Legenden erfüllten Tiefe des orientalischen Traums. (...) Er mixt Exotismus-, Abenteuer- und Venedigmotive mit einer Prise schwarzer Erotik, mutwillig eingestreuten Anachronismen und mancher metiergerecht an den Haaren herbeigezogenen Anekdote.“
Hajo Steinert

 

 

Termin:
– Donnerstag, 29. August 2002, 20.30, Markgrafentheater

home | Teilnehmer 2002 | Programmübersicht | Infos zu Wolf Wondratschek