Autorenporträt: Wilhelm Genazino |
Foto: Brigitte Friedrich |
Weil das Wünschen nicht müde wird, auf Paradiese zu hoffen Der lachende Nebenmensch ist eine seiner Lieblingsgestalten: jemand,
der ein Gespür für die Poesie von Kaffeesahnebehältern,
chemischen Reinigungen und Wursttheken hat, unter „innerer Verflusung“
leidet, an Bürojobs und Fußgängerzonen zugrunde zu gehen
droht und sich durch die Kraft der Wahrnehmung und des Witzes aus der
Absurdität des Daseins befreien kann. Seit den 70er Jahren kultiviert
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren und diesjähriger Büchner-Preisträger,
sein Interesse für Schattengestalten: „Abschaffel“, Angestellter
einer Speditionsfirma und Protagonist einer ganzen Trilogie, ist derartig
randständig, dass er sich fortwährend aufzulösen scheint.
Das dreibändige Protokoll seiner Existenz ist zugleich eine Schilderung
der bundesrepublikanischen Wirklichkeit jener Jahre mit ihrem lähmenden
Normalitätswahn. Die Sehnsucht der „kleinen Leute“, Ausbruchsversuche und der Traum von einem anderen Leben prägen leitmotivisch Genazinos Werk. „Von der Sehnsucht, die eine Schimäre ist und ein Spiel – unstet und launisch, beschämend und unwürdig, großartig und tröstlich weil das Wünschen nicht müde wird, auf Paradiese zu hoffen“ ist die Überschrift eines Textes von Wilhelm Genazino, der in der Basler Zeitung veröffentlicht wurde: „(...) In den achtziger Jahren lebte in der Frankfurter Innenstadt eine geistesgestörte Frau, die mit einem Wägelchen durch die Straßen zog, dabei manchmal die Arme schwenkte und dazu fast immer redete beziehungsweise schimpfte oder schrie. Sie blieb oft stehen und betrachtete die vorüberflutenden Passanten. Die Leute gaben sich Mühe, die Frau nicht zu beachten, aber das Desinteresse war nur gespielt. In Wahrheit waren sie stark an den Lebensäußerungen der Frau interessiert. Sie beobachteten sie überdeckt, in den Spiegelungen der Schaufensterscheiben oder hinter geparkten Autos. Ich beobachtete die Frau und ihre Beobachter, und ich fragte mich oft, was an der verwirrten Frau interessant war. Lange nahm ich an, dass sich die Beobachter nur nach einer Unterbrechung ihrer gewöhnlichen Eile sehnten. Inmitten der allgemeinen und gleichzeitig leeren Geschäftigkeit war die gestörte Frau ein wunderbar lebhafter Moment. Dann glaubte ich, dass es die offenbar starke Sehnsucht der Frau selbst war, von der die Verlockung ausging. Und es war möglich, dass durch den Anblick der Frau die Schuld der Sehnsucht offenkundig wurde, die Schuld der Teilhabe am vergeblich bleibenden Wünschen. Meine letzte Vermutung war: Die Frau sehnte sich offenkundig zurück in die Zeit, als sie noch beruhigt werden konnte. Vielleicht war diese absolut gewordene Sehnsucht sogar der Grund für ihre Verrücktheit. Und sie könnte das Interesse ihrer heimlichen Beobachter erklären. Denn man muss nicht selbst verrückt sein, um sich nach einer Zeit zurückzusehnen, in der man noch beruhigt werden konnte. Manchmal unterbrach die Frau ihr Schimpfen und Schreien und winkte ihren Beobachtern wie aus weiter Ferne zu. Es war, als würde durch dieses Winken die riesige Entfernung angedeutet, die uns von der Erfüllung dieses Wunsches trennt – und die die Sehnsucht danach so wirklich macht.“ Fr, 27.8.2004, 20 Uhr, Markgrafentheater |
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