Das Lyrik-Paket


   

Auf der Suche nach Weltwahrheit?

In einer rotzfrechen Polemik zur deutschen Gegenwartslyrik ließ der Schriftsteller Matthias Politycki vor einigen Monaten die Alarmglocken schrillen. In der deutschen Dichtkunst, so sein Befund, herrsche ein notorischer Mangel an „Weltwahrheit“. Auf der „Suche nach einem deutschen Gegenwartsgedicht, auf das man stolz sein kann“, befiel ihn allerorten lähmende Frustration. Die allermeisten Gedichte, ärgerte sich der Polemiker, seien nur „hochgepriesene Papierprodukte von Menschen, die nichts erlebt haben und genau darüber schreiben: Stubenhockerlyrik ohne auch nur ein Quäntchen Lebenserfahrung, dafür mit jeder Menge exquisit verschwurbelter Chiffren.“ Gut gebrüllt, Löwe! Indes: Nicht alle Bewusstseinspoesie, die über den Tellerrand sinnlicher Alltagserfahrung hinaus blickt, ist per se erfahrungsleer oder hermetisch. Und je weiter die Bildfindungen und rhythmischen Strukturen des Gedichts von der geläufigen Sprache abweichen, desto sinnlicher kann das Vergnügen mit der Poesie sein.
Im vergangenen Jahr bot das Erlanger Poetenfest erstmals die Gelegenheit, an der erkenntnisfördernden Sprachbeschleunigung via Lyrik teilzuhaben. Auch beim 24. Erlanger Poetenfest werden Lyriker im literarischen Tandem auf die Bühne treten – und es wird sich zeigen, dass wir es hier nicht mit erfahrungsarmen „Stubenhockern“ und „verschwurbelten“ Hermetikern zu tun haben, sondern mit veritablen Sprachkünstlern, die vorführen, „wie Gedichte denken“ (Brigitte Oleschinski), wie man poetisch Geschichtsarchäologie betreibt (Lutz Seiler) oder wie zeitgenössische Dichtkunst die große Tradition der Romantik fortführt (Norbert Hummelt).
Es sind sehr unterschiedliche poetische Temperamente und sehr eigensinnige Stimmen, die auf dem Poetenfest zu Wort kommen. Lutz Seilers Poesie der Erinnerung, seine Wahrnehmungskunde der „rohen Stoffe“ und der „Knochen der Erde“ hat viel mit seiner Kindheitslandschaft zu tun, mit den thüringischen Dörfern bei Gera, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, als sich der Uranbergbau der DDR durch die Landschaft fraß. Seilers lyrische Geologie trifft auf die zarte Sprachskepsis des Österreichers Peter Waterhouse. In fast allen seinen Gedichten geht es Waterhouse darum, die Sprache in eine „unaufhaltsame Übergangsbewegung“ zu versetzen, in ein frei tönendes Sprechen zwischen den Bedeutungen und Repräsentationen. Nur als „unverfestigtes Etwas“, hat er einmal geschrieben, könne das poetische Wort überleben. Die Begegnung von Norbert Hummelt und Brigitte Oleschinski führt ein poetisches Gespräch fort, das diese beiden Autoren vor vielen Jahren begonnen haben: ein Gespräch, das die extrem unterschiedlichen Wege moderner Dichtkunst beschreibt: zum Beispiel die Rückbindung des Gedichts „an elementare Körperfrequenzen wie Atem, Herzschlag, Schrittmaß ...“ (Brigitte Oleschinski) oder aber den emphatischen Rückgriff auf die Romantik. Denn „das Romantische“, hat Norbert Hummelt einmal gesagt, „ist eine Weise, die Dinge anzusehen als könnten sie unseren Blick erwidern.“ Auf alle Fälle wird in den Lesungen der vier Autoren und in ihren Gesprächen über Dichtung und Welt eines nicht fehlen: die Auseinandersetzung mit der „Weltwahrheit“.
Michael Braun

Den musikalischen Part zu den „Lyrik-Paketen“ des Poetenfests steuert wieder der Erlanger Komponist und Pianist Klaus Treuheit bei, diesmal gemeinsam mit dem Posaunisten Günter Heinz (Dresden) und dem Violinisten Christoph Irmer (Wuppertal). Ihre Musik verbindet Reflexion und Spontaneität, Aleatorik und Improvisation jenseits des Variierens.

Sa, 28.8., 18.30 Uhr und So, 29.8., 13 Uhr, Schlossgarten