Literatur aktuell


   

Lesungen und Gespräche
Die Revue der Neuerscheinungen
Versuche über das wüste Leben

Wetten, dass Thomas Gottschalk in Erlangen auftritt! Der Showmaster wird zwar nicht leibhaftig das Poetenfest beehren, aber eine gute Figur macht er trotzdem. In Gert Heidenreichs Biografie über den angeblich „beliebtesten Deutschen“. Die Lesung des Münchner Romanciers ist allerdings nicht der einzige Programmpunkt an den beiden Nachmittagen mit „Literatur aktuell“, anhand dessen sich die Zuschauer davon überzeugen können, dass deutsche Autoren keineswegs auf schwermütige Themen abonniert sind. Im Gegenteil: So viel Leidenschaft, so viele spannende, intensiv recherchierte und manchmal ganz und gar wahre Geschichten wie in diesem Jahr gab es selten zuvor an den beiden Nachmittagen im Schlossgarten oder (sollte der Wettergott uns einen Strich durch die Rechnung machen) im Redoutensaal und daneben – ganz selbstverständlich – die großen ernsten Themen der Literatur.
Endlich ist es gelungen, den in Kalifornien lebenden deutschen Schriftsteller Patrick Roth für Lesung und Gespräch zu engagieren. Patrick Roth, als Chaplin-Biograf auch als ausgewiesener Cineast im Bewusstsein deutscher Leser, legt in diesem Buchherbst eine vor Heiterkeit vibrierende und von poetischem Ernst beseelte Prosa vor, die auf „Starlite Terrace“ spielt. So heißt ein verfallender Apartmentkomplex in Los Angeles. Vier seine Bewohner erzählen sich Geschichten, die von religiösem Fundamentalismus handeln, von der Schönheit der Rockmusik der sechziger Jahre und anderen Rettungsversuchen, die ans Wundersame grenzen.
Mal sehen, welches Kapitel Harald Martenstein, der brillante Feuilletonist, Kritiker (und zugleich Verteidiger!) der deutschen Spaßgesellschaft, in seinem neuen Buch aufschlagen wird. Dass die Lust am Geschichtenerzählen und journalistische Verve eine wunderbare Verbindung eingehen können, wird man auch bei der Lesung Dirk Kurbjuweits aus seinem Roman „Nachbeben“ erleben. Der Spiegel-Reporter erzählt von einem alten Mann und seiner Liebe zur Erde und einem jungen Banker und seiner Liebe zum Geld. So ganz nebenbei werden wir hier Ohrenzeuge eines mysteriösen Mordes, der aufgeklärt werden will.
Deutsche Wirklichkeiten nehmen in den Geschichten der besten unserer Gegenwartsautoren und Gegenwartsautorinnen manchmal ganz schön mysteriöse und groteske Züge an. Irina Liebmann zum Beispiel. Zu Beginn liest sich ihr neuer Roman mit dem ironisch-kämpferischen Titel „Die freien Frauen“ wie die ganz realistische Geschichte einer tief wurzelnden Entfremdung zwischen einer verunsicherten Mutter und ihrem schweigsamen Sohn. Im Verlauf des Erzählten nimmt das Geschehen derart unheimliche Züge an, dass man kaum noch von „Realismus“ sprechen mag. Auch Jan Koneffkes neues Buch „Eine Liebe am Tiber“ ist mehr als ein breit angelegter Familien- und Liebesroman vor der Kulisse eines traditionellen Sehnsuchtslandes deutscher Autoren: Italien. Der in Wien lebende Autor erzählt in betörend schönen und magischen Bildern, an denen selbst ein Fellini seine Freude gehabt hätte.
Vom Gefangensein in gesellschaftlichen und religiösen Traditionen und von einem unerhörten Tabubruch – davon erzählt Arnold Thünker in seinem beeindruckenden ersten, autobiografisch motivierten Roman „Keiner wird bezahlen“. Er handelt von einem jungen Mann, einem einsamen Gastwirtssohn in einem gottverlassenen Nest in der Eifel, der mit der Frau eines Freundes eine sexuelle Beziehung eingeht. Von Brüchen mit religiösen Tabus erzählt Petra Morsbach in ihrem atemberaubend spannenden neuen Roman „Gottesdiener“: Wie weit darf ein Priester gehen, der seine urpersönlichen Bedürfnisse nicht in Einklang mit den strengen moralischen Gesetzen, die seinem Amt innewohnen, bringen kann?
Ja, die Debütantinnen und Debütanten. Kein renommierter deutscher Verlag, der nicht auf Entdeckungsreise nach jungen Autorinnen und Autoren gegangen wäre. „Mein Vater, sein Schwein und ich“ – so nennt Jana Scheerer ihren ersten Roman über eine durchschnittliche Familie in Westberlin. So schräg der Titel, so schräg verläuft auch die äußerst skurrile Geschichte einer jungen Frau, deren Vater eines Tages ein Mietschwein aufnimmt, das man allerdings im Verlauf eines Mallorca-Urlaubes am liebsten wieder Quitt werden will.
Die Familiengeschichte Dagmar Leupolds ist von ganz anderer Art. Ausgehend vom Tod des Vaters geht die Ich-Erzählerin den Legenden ihrer Familie nach und erschreibt sich ihr eigenes Leben. „Nach den Kriegen“ ist eine bewegende Spurensuche. Auf die Frage nach der Schuld jener Väter, die in den düstersten Jahrzehnten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert zu den Mitmachern gehörten, gibt die Autorin keine eindeutige Antwort. Der Tod als Movens des Erzählens. Auch Jakob Heins Erzählband „Vielleicht ist es sogar schön“ legt davon Zeugnis ab. Hier ist der Tod der Mutter, der am Anfang einer berührenden literarischen Erinnerungsarbeit steht.
Auch Malin Schwerdtfeger erzählt in ihrem zweiten Roman eine Art Familiengeschichte. In „Delphi“ rast der Vater von einer antiken Ausgrabungsstätte zur nächsten, schließt sich die Mutter einer jüdischen Sekte an, was die beiden Töchter nur darin anspornt, ihr eigenes Leben zu leben. Der Coup dieses Buches: Es wird aus der Perspektive einer Toten erzählt! Auch Gabriele Riedle ist eine Autorin der Grenzüberschreitung. In ihrem neuen Romanessay „Versuch über das wüste Leben“ wagt die Autorin eine „faustische Inspektion der globalisierten Körper, Seelen und Geister an der Schwelle zum 21. Jahrhundert – eine Suchbewegung, die das Treibgut der Gedanken und Gefühle, Ideologeme und Phantasmagorien einer ganzen Generation aufwühlt“. Vom plötzlichen Verschwinden (ausgerechnet im Warteraum eines Flughafens) und vom Verlorensein inmitten unserer „schönen“ globalisierten Welt handelt Gregor Hens’ kunstvolle Novelle „Matta verlässt seine Kinder“. Seine „Spielanordnung mit tödlichem Ausgang“ ist einer der ganz großen Kritikererfolge in diesem Jahr.
Nicht weniger aufwühlend ist der erste, lang erwartete Roman von Terézia Mora, die 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hatte. In „Alle Tage“ erzählt sie die labyrinthische Geschichte eines Mannes, der aus einem Bürgerkriegsgebiet in eine westliche Großstadt kam und auch dort dauernd das Gefühl hat, am falschen Ort zu sein. Man muss kein Prophet sein, um zu behaupten, dass dieses Buch über einem Höllentripp eines Hin-und-Hergestoßenen wegen seiner sprachlichen Virtuosität zu den ganz großen deutschsprachigen Romanen dieses Jahres zählen wird. Sprachliche Virtuosität – das wurde auch dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträger Uwe Tellkamp von der Jury bescheinigt. Das Erlanger Publikum wird auch von der Vortragskunst des Autors begeistert sein. Für ihren exzellenten Vortrag ist auch die 1971 geborene Kathrin Röggla bekannt, deren neuester Roman „Wir schlafen nicht“ in der Welt der „Key-Account-Manager“, „IT-Supporter“ und „Online-Redakteure“ spielt. Wortspiele, Sprachbilder und Bildbrüche sind ihre Spezialität, der sezierende Blick und ein temporeicher Sound sind ihre Markenzeichen. Ganz anders Marie-Luise Scherer. Sie kämpft um jedes Wort, den Takt ihrer Sätze gibt das Ticken eines Metronoms an. Irgendwo zwischen Reportage und hoher Literatur angesiedelt sind die atemberaubenden Geschichten, die sie in ihrem neuesten Buch „Der Akkordeonspieler“ mit überwältigendem Erfolg erzählt. Starke Texte und starke Stimmen – „Literatur aktuell“ bietet für jeden Zuhörer reichlich Diskussionsstoff und – anspruchsvolle Unterhaltung.
Hajo Steinert

Termin:
Sa und So, 28. und 29.8., 14–18.30 Uhr, Schlossgarten