„Jedes Gedicht geht
langsam von oben nach unten.“ Das ist ein irritierender Satz, suggeriert
er doch eine Grundbewegung der Poesie, die sich nach streng physikalischer
Gesetzmäßigkeit zu vollziehen scheint. Es ist ein Satz des
Lyrikers Lutz Seiler, der seine Poetik als Wahrnehmungskunde der „rohen
Stoffe“ und der „Knochen der Erde“ entwickelt hat, fundiert
auf der Mythologie des Bergbaus. Seiler wurde 1963 in dem Bergbaudorf
Culmitzsch in Thüringen geboren, in einer Region der DDR, in der
durch rabiaten Abbau von Uranerz die Landschaft vergiftet wurde. In seinem
aktuellen Essayband „Sonntags dachte ich an Gott“ rekonstruiert
er die „Abwesenheit“, „Müdigkeit“ und „Schwere“
der Dinge der Kindheit, die sich als Wahrnehmungszustände unauslöschlich
in seine Gedichte eingeschrieben haben. Die Grundfarbe von Lutz Seilers
Poesie ist ein giftiges Schwarz. Der Stoff seiner poetischen Erinnerung
ist kontaminiert mit einem Material, das als Abfallprodukt des Uranbergbaus
bekannt ist – mit der Pechblende, dem schwarz glänzenden, kryptokristallinen
Urangestein in der Erde, zugleich ihr schwerstes natürliches Element.
1968 wurde Seilers Kindheitsdorf Culmitzsch dem Erdboden gleichgemacht,
als sich der Uranbergbau der DDR durch die Landschaft fraß.
Das Erscheinen von Seilers Gedichtband „pech & blende“
(2000) war ein literarisches Ereignis. Die Kritik pries den Autor völlig
zurecht als eine der wichtigsten und suggestivsten Stimmen der jüngeren
Lyriker-Generation. „pech & blende“: Dieser Titel verweist
nicht nur auf die radioaktiv verseuchte Heimaterde des Dichters, sondern
auch, in einer zweiten gegenläufigen Konnotation, auf gleißende
Helligkeit. Denn mit einer Art Blende, jener Apparatur bei optischen Geräten,
mit der die Bildeinstellung gesteuert wird, erzeugt Lutz Seiler seine
suggestiven Bilder einer Kindheit zwischen Abraumhalden und archaischer
Ländlichkeit.
In sehr dicht gefügten Versen, die viel sinnliche Details aufnehmen
und doch wie surrealistische Rätselbilder anmuten, führen uns
diese Gedichte in die ostthüringische Kindheitslandschaft des Dichters.
Als Basiswörter und Leitmotive fungieren Wörter wie „Knochen“,
„Uhr“ oder „ticken“. Andere, fast magisch zu nennende
Schlüsselwörter, sind „Holz“ und „Schwere“.
Lutz Seilers Gedichte haben etwas von der Art eines schweren Traums, in
dem der Dichter die von Gewalt verheerten Schauplätze seiner versunkenen
Landschaft durchschreitet. (M.B.)
Auszeichnungen u.a.: Kranichsteiner Literaturpreis (1999), Dresdner Lyrikpreis
(2000), Anna-Seghers-Preis (2002), Ernst-Meister-Preis (2003), Bremer
Literaturpreis (2004).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „berührt / geführt“, Gedichte, zus. mit
Carmen Schmidt, Oberbaum, Chemnitz 1995
– „Topol, Jachym: Das hier kenn ich“, Nachdichtungen,
Galrev, Berlin 1996
– „pech & blende“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt
a.M. 2000
– „Heimaten“, Essay, zus. mit Anne Dude und Farhad Showghi,
Wallstein, Göttingen 2001
– „Jahrbuch der Lyrik 2003“, Hrsg. zus. mit Christoph
Buchwald, C.H. Beck, München 2002
– „vierzig kilometer nacht“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt
a.M. 2003
– „Sonntags dachte ich an Gott“, Aufsätze, Suhrkamp,
Frankfurt a.M., September 2004
So, 29.8., 13 Uhr, Schlossgarten
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