Marie-Luise Scherer


   

Marie-Luise Scherer ist Dostojewskijs große Schülerin. Sie hat ihr Geld zwanzig Jahre als ‚Reporterin’ beim Spiegel verdient und wurde berühmt, weil sie unverwechselbar dichte, genaue und kunstvoll komponierte Geschichten über Grenzhunde, ein in Berlin verschwundenes und als Skelett auf einem Berliner Dachboden nach vielen Jahren gefundenes schwäbisches Mädchen geschrieben hat. Sie hat den genauen und erbarmungslosen Blick, die Fähigkeit, Milieus zu schildern, die Augen aufzuhalten, auch dann, wenn es unerträglich wird.
Marie-Luise Scherer wurde 1938 in Saarbrücken geboren, Hellmuth Karasek hat ihr in seinem Buch über den „Spiegel“ („Das Magazin“) viele Seiten gewidmet. Marie-Luise Scherer war immer klug genug, wenig zu schreiben, kein Ausstoß, sondern die Auslese. Das hat die Kollegen zur Rage und ihr den Ruf der ‚Diva’ eingebracht. Ihre Leser hat sie zur Geduld erzogen. Marie-Luise Scherer kämpft mit jedem Wort, den Takt ihrer Sätze gibt das Ticken eines Metronoms an. Schon als 1988 der Band „Ungeheurer Alltag“ erschien, fragte man sich, sind das nun noch Reportagen, oder ist das nicht doch „hohe“ Literatur. Gattungsfragen sind in ihrem Fall unsinnig. Was zählt, ist die Qualität, und die ist einfach atemberaubend.
Wer die Geschichte des Akkordeonspielers Vladimir Alexandrowitsch Kolenko aus der kaukasischen Stadt Essentuki gelesen hat, Titelgeschichte des in diesem Jahr mit überwältigendem Erfolg erschienenen Geschichten-Bandes, der wird ein ganz neues Bewusstsein für die Musikanten entwickeln, die hinter ihrem Hut stehen und vom Ave Maria bis zu Volksliedern alles spielen, was die Passanten zum Stehen bleiben zwingt. Marie-Luise Scherer erzählt im „Akkordeonspieler“ auf 138 Seiten die Geschichte des Mannes, dazu eine Sozialgeschichte Berlins und Russlands, eine Geschichte über die russische Eisenbahn und, nicht zu vergessen, die Geschichte einer Liebe zwischen Vladimir Alexandrowitsch Kolenko und seiner Frau Galina Alexandrowna. Und wer einmal herzhaft lachen möchte, der soll ihre Geschichte über die Pariser Modeschauen lesen. Gesellschaft kann nicht besser über den Laufsteg und durch den französischen Kakao gezogen werden. Marie-Luise Scherer lebt bei Lüchow-Dannenberg, da, wohin sich viele Berliner und Hamburger zurückgezogen haben. Sie liebt die Hunde, ob sie die Menschen liebt, bestimmt, sonst könnte sie nicht so tief in sie hineinschauen und eine solche Neugier entwickeln. (V.A.)
Auszeichnung u.a.: Börne-Preis (1994)

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Ungeheurer Alltag. Geschichten und Reportagen“, Rowohlt, Reinbek 1988
– „Der Akkordeonspieler. Wahre Geschichten aus vier Jahrzehnten“, Eichborn, Frankfurt a.M. 2004

So, 29.8., 17 Uhr, Schlossgarten