Porträt International: Ljudmila Ulitzkaja |
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Russische Erkundungen Ljudmila Ulitzkaja ist die gutgelaunte Stimme Moskaus. Sie wurde vor
sechzig Jahren in Sibirien geboren, studierte Biologie, wurde Genetikerin,
aber dann begann sie zu schreiben. In ihren Büchern vermischt sie
die Erfahrungen der alten Sowjetunion und des neuen Russlands. Sie kämpft
nicht um ein Wort oder um einen Satz, aber um eine griffige Geschichte.
Ljudmila Ulitzkaja ist keine durchtriebene Schriftstellerin. Sie setzt
Adjektive großzügig und macht sich nicht viele Gedanken über
so lästige poetologische Bremsklötze wie die Erzählperspektive.
Ihr geht es um die „Russischen Erkundungen“, wie ihre erste,
1992 in Deutschland erschienene Erzählung auch heißt. Sie erkundet
eine Gesellschaft zwischen Sommerhaus und Großstadt, zwischen Religiosität
und Aberglauben, interessiert sich für die Familie, Abhängigkeiten,
Freundschaftsbande und Kriegsvertriebene aus Grosny. |
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Ljudmila Ulitzkajas soeben erschienener Roman
„Die Lügen der Frauen“ ist wie ein Reigen angelegt und
zeigt, wie raffiniert, überzeugend, rührend diese „Lügen“
sind. Honoré de Balzac würde einen Veitstanz aufführen:
Endlich versteht ihn jemand, endlich gibt ihm eine Frau Recht. Balzac sah
die Männer und die Frauen nie in gutem Licht. Er war davon überzeugt,
dass die Irrtümer der Frauen in ihrem Glauben an das Gute oder ihrem
Vertrauen auf das Wahre liegen. Balzac fand diese Irrtümer nicht charmant,
sondern dämlich und schrieb zur Beweisführung Roman um Roman.
Ljudmila Ulitzkaja setzt in den meisten Kapiteln die 35-jährige Shenja
als Lügendetektor ein. Sie ist verheiratet, hat zwei Söhne, sieht
gut aus, arbeitet als Lektorin in einem Verlag, als Dramatikerin, als Drehbuchautorin.
Shenja geht die Treppen immer zu Fuß, weil der Lift für ihr Lebenstempo
viel zu langsam ist. Viele kommen zu ihr und schütten ihr Herz aus
und binden ihr einen Bären auf. Sie erfinden Liebhaber, tote Kinder,
Brüder, fliegende Untertassen. Sie stilisieren sich zu Dichterinnen
und rezitieren Gedichte großer Lyriker, und am Ende stehen Shenja
oder die arme naive Mascha dumm da. Sie haben Gedanken und Emotionen verschwendet,
aber sie haben auch etwas davon gehabt. Es sind rührende Geschichten,
wie die von der 13-jährigen Ljalja, die einen verheirateten Maler zu
ihrem Liebhaber macht. Ljudmila Ulitzkaja benutzt Details, wie die Gürkchen
auf dem Halstuch des Künstlers, als Synonym für Kindlichkeit und
Verrücktheit der Affäre. Shenja fliegt nach Zürich, um dort
russische Prostituierte zu interviewen. Tolle Geschichten werden ihr erzählt,
die den Nachteil haben, dass sie sich alle gleichen. Es sind Geschichten
vom frühen Tod des Vaters, vom bösen Stiefvater, der sie vergewaltigte
und auf die schiefe Bahn brachte. Es sind Geschichten vom 1000-Franken-Liebhaber
und vom Bankier, der die „russische Lolita“ heiraten wird. Die
Auflösung der Lügen erfolgt unter Rotz und verschmiertem Augen-Make-up.
Shenja überlegt nicht, weshalb man gerade ihr diese Lügen erzählt,
und Ljudmila Ulitzkaja will keine komplizierten Analysen. Sie will eine
Moral. Und die Moral von der Geschicht’ kommt im letzten Kapitel über
die „Kunst zu leben“. Durch einen schweren Unfall wird Shenja,
die anteilnehmende, tröstende, kompetente Person hilflos. Sie will
nicht mehr leben, bis ihr Lilja, der sie das Leben gerettet hat, den Mut
zurückbringt. So tragisch und doch so gut gehen die Märchen zu
Ende, selten das wahre Leben. Aber Ljudmila Ulitzkaja kämpft für
die starke Frau, die verwurzelt ist in einem weitverzeigten Familiensystem
und in den vielen Geschichten, die jeder einzelne von sich oder über
den anderen erzählt. Ratschläge geben ist leicht, Ratschläge
annehmen schwer. Bedanken sich die russischen Frauen für Ljudmila Ulitzkajas
folkloristische Psychogramme? Ja, sie lesen sie gerne, ohne sich zu überfordern.
Es sind Geschichten von Frauen, würde Balzac sagen, die mitten in dieser
Welt nicht von dieser Welt sind. Verena Auffermann |
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So, 31.8., 20.30 Uhr, Markgrafentheater Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro |
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