Porträt International: Ljudmila Ulitzkaja


   

Russische Erkundungen

Ljudmila Ulitzkaja ist die gutgelaunte Stimme Moskaus. Sie wurde vor sechzig Jahren in Sibirien geboren, studierte Biologie, wurde Genetikerin, aber dann begann sie zu schreiben. In ihren Büchern vermischt sie die Erfahrungen der alten Sowjetunion und des neuen Russlands. Sie kämpft nicht um ein Wort oder um einen Satz, aber um eine griffige Geschichte. Ljudmila Ulitzkaja ist keine durchtriebene Schriftstellerin. Sie setzt Adjektive großzügig und macht sich nicht viele Gedanken über so lästige poetologische Bremsklötze wie die Erzählperspektive. Ihr geht es um die „Russischen Erkundungen“, wie ihre erste, 1992 in Deutschland erschienene Erzählung auch heißt. Sie erkundet eine Gesellschaft zwischen Sommerhaus und Großstadt, zwischen Religiosität und Aberglauben, interessiert sich für die Familie, Abhängigkeiten, Freundschaftsbande und Kriegsvertriebene aus Grosny.
In ihrem Roman „Reise in den siebenten Himmel“, an dem sie ganze neun Jahre gearbeitet hat, beschreibt sie das Leben des Gynäkologen Pawel und seiner Frau Jelena, die Krise der Religion in Zeiten zerfallender Gesellschaftsstrukturen und den Konflikt zwischen Wissenschaft und Emotion, Rationalität und Moral. All ihre Bücher handeln vom Existenziellen. Von Liebe und Tod in der Sowjetunion bis in die Perestroika- und Nach-Perestroika-Zeit. Geografisch reichen die Bücher von St. Petersburg über Moskau und die Provinz bis auf die Krim und ins New Yorker Exil und wieder zurück. Ljudmila Ulitzkaja ist eine vielschreibende Schriftstellerin. In jährlicher Folge erschienen seit 1997 die Erzählung „Sonetschka“, „Medea und ihre Kinder“, „Das fröhliche Begräbnis“, die „Reise in den siebenten Himmel“, gefolgt von den Erzählungsbänden „Zarte und grausame Mädchen“ und „Olgas Haus“.

 







  Ljudmila Ulitzkajas soeben erschienener Roman „Die Lügen der Frauen“ ist wie ein Reigen angelegt und zeigt, wie raffiniert, überzeugend, rührend diese „Lügen“ sind. Honoré de Balzac würde einen Veitstanz aufführen: Endlich versteht ihn jemand, endlich gibt ihm eine Frau Recht. Balzac sah die Männer und die Frauen nie in gutem Licht. Er war davon überzeugt, dass die Irrtümer der Frauen in ihrem Glauben an das Gute oder ihrem Vertrauen auf das Wahre liegen. Balzac fand diese Irrtümer nicht charmant, sondern dämlich und schrieb zur Beweisführung Roman um Roman. Ljudmila Ulitzkaja setzt in den meisten Kapiteln die 35-jährige Shenja als Lügendetektor ein. Sie ist verheiratet, hat zwei Söhne, sieht gut aus, arbeitet als Lektorin in einem Verlag, als Dramatikerin, als Drehbuchautorin. Shenja geht die Treppen immer zu Fuß, weil der Lift für ihr Lebenstempo viel zu langsam ist. Viele kommen zu ihr und schütten ihr Herz aus und binden ihr einen Bären auf. Sie erfinden Liebhaber, tote Kinder, Brüder, fliegende Untertassen. Sie stilisieren sich zu Dichterinnen und rezitieren Gedichte großer Lyriker, und am Ende stehen Shenja oder die arme naive Mascha dumm da. Sie haben Gedanken und Emotionen verschwendet, aber sie haben auch etwas davon gehabt. Es sind rührende Geschichten, wie die von der 13-jährigen Ljalja, die einen verheirateten Maler zu ihrem Liebhaber macht. Ljudmila Ulitzkaja benutzt Details, wie die Gürkchen auf dem Halstuch des Künstlers, als Synonym für Kindlichkeit und Verrücktheit der Affäre. Shenja fliegt nach Zürich, um dort russische Prostituierte zu interviewen. Tolle Geschichten werden ihr erzählt, die den Nachteil haben, dass sie sich alle gleichen. Es sind Geschichten vom frühen Tod des Vaters, vom bösen Stiefvater, der sie vergewaltigte und auf die schiefe Bahn brachte. Es sind Geschichten vom 1000-Franken-Liebhaber und vom Bankier, der die „russische Lolita“ heiraten wird. Die Auflösung der Lügen erfolgt unter Rotz und verschmiertem Augen-Make-up. Shenja überlegt nicht, weshalb man gerade ihr diese Lügen erzählt, und Ljudmila Ulitzkaja will keine komplizierten Analysen. Sie will eine Moral. Und die Moral von der Geschicht’ kommt im letzten Kapitel über die „Kunst zu leben“. Durch einen schweren Unfall wird Shenja, die anteilnehmende, tröstende, kompetente Person hilflos. Sie will nicht mehr leben, bis ihr Lilja, der sie das Leben gerettet hat, den Mut zurückbringt. So tragisch und doch so gut gehen die Märchen zu Ende, selten das wahre Leben. Aber Ljudmila Ulitzkaja kämpft für die starke Frau, die verwurzelt ist in einem weitverzeigten Familiensystem und in den vielen Geschichten, die jeder einzelne von sich oder über den anderen erzählt. Ratschläge geben ist leicht, Ratschläge annehmen schwer. Bedanken sich die russischen Frauen für Ljudmila Ulitzkajas folkloristische Psychogramme? Ja, sie lesen sie gerne, ohne sich zu überfordern. Es sind Geschichten von Frauen, würde Balzac sagen, die mitten in dieser Welt nicht von dieser Welt sind.
Verena Auffermann
 

So, 31.8., 20.30 Uhr, Markgrafentheater

Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro

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