Autorenporträt: Alexander Kluge


   

In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod

Er ist einer der vielseitigsten Intellektuellen in Deutschland. Alexander Kluge, 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren, hat Jura, Geschichte und Kirchenmusik in Frankfurt studiert. Er war Rechtsanwalt, aber er hat seine juristische Rolle vor allem als Vordenker und Anwalt des jungen deutschen Autorenfilms gespielt. Er war ein Schüler des Gesellschaftstheoretikers Theodor W. Adorno und sieht sich als legitimen Nachfahren der Kritischen Theorie – weil er Geschichten erzählt. Er war ein bedeutender Filmemacher (23 Filme, darunter „Abschied von Gestern“ ,1966, „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, 1974, „Deutschland im Herbst“, 1978, „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, 1985) und hat sich aufs Fernsehen verlegt. Er hat sich mit seiner Produktionsfirma „dctp“ im Kommerz-TV eingenistet (verantwortlich für die unabhängigen Kulturmagazine „10 vor 11“, „News & Stories“, „Primetime/Spätausgabe“ und „MitternachtsMagazin“ in den Fensterprogrammen bei RTL , SAT 1 und VOX) und untergräbt mit seinem exklusiven Kulturprogramm die Quotenwünsche. Er hat gemeinsam mit dem linken Soziologen Oskar Negt die Programmschrift „Öffentlichkeit und Erfahrung“ geschrieben, auf die das Autorenpaar mehrere andere gewaltige Wälzer an Streitbarkeit und Thesenmut folgen ließ, um doch immer nichts Anderem als der Phantasie das Wort zu reden. Er schien als Erzähler, der mit „Lebensläufen“ 1962 debütiert hatte, schon längst verstummt, bis er 2000 seine monumentale „Chronik der Gefühle“ vorlegte. Es war ein Zweitausendseiten-Werk, ein Buchstabendickicht, in das man nur eindringen kann, um sich zu verirren. Der Erzähler Kluge legte seine Summe vor: seine früheren, veröffentlichten Texte wurden in einem Band zusammengefasst, viele von ihnen revidiert und bearbeitet. Die andere Hälfte bestand aus neuen, bisher unpublizierten Texten. Die Überraschung machte sprachlos, denn Kluge schien längst untergegangen zu sein im Privatfernsehen, getreu dem Motto: Jede Woche ein unbeachteter Beitrag, das summiert sich.

 





Seine literarische Rückkehr erschien als ein Akt mehrfacher Überwältigung: zum einen durch das immense Material, entnommen den vergessenen Resten der Geschichte, ihren monströsen Auswüchsen und ihren sogenannten wahren Dokumenten, zum anderen als eine Gesamtschau des abgelaufenen Jahrhunderts, in dem viele andere verpuppt sind; zum dritten mit der Durchdringung von Essay und Erzählung; zum vierten als Intention, der Literatur der Zerstreuung und des Konsums eine Kraft des reflexiven Vermögens entgegenzusetzen.
Die beiden Bände berichten von den Erfahrungen und vor allem von den Gefühlen, mit denen wir auf unsere Zeit und deren Brüche reagieren. Dabei bewegt er sich von der Gegenwart aus rückwärts: auf die neuesten Geschichten vom Beginn des 21. Jahrhunderts folgen Lebensläufe um 1989, aus der Zeit der Bonner Republik und weiter zurück bis 1945; sichtbar werden darin Reflexe und Bilder, ein Humanvorrat, aus 5000 Jahren.
Im Oktober, eine Woche nach der Frankfurter Buchmesse, erhält Alexander Kluge, den diesjährigen Georg-Büchner-Preis verliehen. Als wollte er sein Publikum und dessen Vorstellung vom modernen Klassiker narren, legt dieser unerschöpfliche Einfallsproduzent in diesem Herbst wiederum ein Mammutwerk vor. Rund 1000 Seiten Storys, Anekdoten, Gespräche, wohl vor allem erdachte, historische Exkursionen, gedankliche Seitensprünge, Entwürfe, Erinnerungen, Marginalien, zusammengefasst unter dem Titel „Die Lücke, die der Teufel läßt“. Der Untertitel des gewaltigen, für September angekündigten Bandes gibt ein Versprechen: „Im Umfeld des neuen Jahrhunderts“ soll das Material deponiert sein. So verspricht dieses Erlanger Porträt eines Schriftstellers, Medienpolitikers, Filmemachers und Fernsehautors, eines Blitz- und Querdenkers unter anderem auch eine vorgezogene, exklusive Buchpremiere.
Wilfried F. Schoeller

Fr, 29.8.2003, 20 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro

 

 




v.l. Joh. Blum, A. KlugeAlexanders Kluges Ablenken
Kluge Töne – Performance

Textauswahl: Johannes Blum, Stimme: Patricia Litten, an den Plattentellern: dubois
Er ist bekannt als Filmemacher (mit bewusst unprofessionellem, dadurch provokativem Gestus), als Fernsehmacher (ausgestattet mit phantasievoller Strategie auf der Suche nach Sendeplätzen), als Geschichtenerzähler (im denkbar allerweitesten Sinn), als Opernliebhaber (dazu erzogen durch seinen Vater, dem nichts tragisch genug sein kann) – kurz: als der begnadetste Fragensteller, den wir kennen. Denn diese Fragen allein sind schon eigene Minidramen mit dem Anspruch auf lauterste Wahrheit, „und nichts als der Wahrheit“, allerdings einer Wahrheit, die querläuft zu allen sonstigen Erzählstrategien, denen wir, da sie so konsequent klingen, jede Plausibiliät abkaufen. Kluge lenkt davon ab: leise, ironisch, nur scheinbar alogisch. Und in merkwürdig irritierender Insistenz erzählt er uns die nicht erzählten Geschichten der Geschichte als Betthupferl kurz vor dem Einschlafen, ganz nah am Schlaf, der vernünftige Ungeheuer und anderes gebiert.

Fr, 29.8., 21.30 Uhr, Glocken-Lichtspiele

 

News und Stories
Kluge Bilder – Filme non stop
Auswahl aus 15 Jahren Fernseharbeit

Mit der Verkündung des „Oberhausener Manifests“ 1962 – gewissermaßen der Gründungsakt des Neuen Deutschen Films – hatte Alexander Kluge seinen ersten medienpolitischen Auftritt. Als Autor war er bereits bekannt, bevor er sich einen Namen als Filmregisseur und -autor mit Werken wie „Abschied von Gestern“ oder „Deutschland im Herbst“ machte. Sein letzter abendfüllender Spielfilm liegt mittlerweile mehr als 15 Jahre zurück. Heute beschäftigt sich Kluge mit dem Fernsehen, was er – zumindest als utopisches Gedankenspiel – in einem frühen Film bereits ankündigt: „Irgendwann einmal wächst dies zusammen: Die Liebe zur Sache, die Romane und die Fernsehtechnik.“ (Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, 1968)
Zu Alexander Kluges wichtigsten medienpolitischen Erfolgen zählt die Durchsetzung einer Sendelizenz für unabhängige Kulturprogramme bei den privaten Anbietern RTL, SAT 1 und VOX. Seit 1988 kann Kluge wöchentlich seine Kulturmagazine „10 vor 11“, „Prime Time“, „News & Stories“ und „Mitternachtsmagazin“ ausstrahlen. Es handelt sich hierbei um die ungewöhnlichsten und stilistisch aufregendsten Kultursendungen, auf die sich einzulassen fast jedes Mal zur Überraschung wird. Sie gehören zu den wenigen intellektuellen Abenteuern, die das Fernsehen zu bieten hat.
In Zusammenarbeit mit der Produktionsgesellschaft dctp (Development Company for Television Program) wurde exklusiv für das 23. Erlanger Poetenfest eine Auswahl aus dem unerschöpflichen Fundus der letzten 15 Jahre Mediengeschichte zusammengestellt. Kommen und Gehen jederzeit erwünscht.

Fr, 29.8.2003, ab 22 Uhr, Theater in der Garage

     

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