Autorenporträt: Walter Kempowski


   

Meine ganze Arbeit zielt darauf ab, unsere Schuld aufzuzeigen

Der Schriftsteller Walter Kempowski, am 29. April 1929 als Sohn eines Schiffsmaklers und Reeders in Rostock geboren, ist der Archivar deutscher Zeitgeschichte. Die Zerstörung Rostocks durch alliierte Bomberkommandos im April 1942 setzte Walter Kempowskis behüteter Kindheit ein jähes Ende. Sein Vater fiel in den letzten Kriegstagen auf der Frischen Nehrung. Die Rote Armee nahm die Stadt in Besitz. Kempowski musste die Schule verlassen und arbeitete als Laufbursche, ehe er 1946 eine kaufmännische Lehre in einer Druckerei antrat. 1947 ging er nach Hamburg, um eine Lehre beim Rowohlt-Verlag zu beginnen, was jedoch aufgrund einer fehlenden Genehmigung seitens der Stadtverwaltung verhindert wurde.
1948 wurde Kempowski, während eines Besuchs in Rostock, zusammen mit seinem Bruder von einem sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt, seine Mutter wegen Mitwisserschaft zu zehn Jahren. Nach acht Jahren Haft in Bautzen wurde Kempowski vorzeitig entlassen, ging zunächst nach Hamburg, wo seine Mutter seit 1954 in bescheidenen Verhältnissen lebte, holte in Göttingen sein Abitur nach und arbeitete nach seinem Staatsexamen ab 1963 als Grundschullehrer.

 





 

Schon als Kind hatte Kempowski kleine Erzählungen verfasst, Szenen aus dem Familienleben und die Geschichte eines unangepassten Hitlerjungen, beeindruckt von dem Schriftsteller Walter Görlitz, der bei Kempowskis Eltern einige Jahre als Untermieter ein Zimmer bewohnte. Seit dem ersten Tag in Freiheit plante Kempowski ein Buch über die Haftzeit zu schreiben. Er befragte seine Mutter nach ihren Erlebnissen im Frauengefängnis Hoheneck, später auch seinen Bruder über die Jahre in Bautzen, und protokollierte mit dem Tonband. Erste Skizzen wie „Zelle“ und „Gespräche im Knast“ entstanden.
Eine untergegangene Welt festzuhalten und literarisch zu verdichten, war der Impuls zu Kempowskis neunbändiger „Deutscher Chronik“. Den Ausgangspunkt seiner literarischen Arbeit bildete die Recherche: der Autor sammelte Befragungen von Zeitzeugen, Tonbänder, Briefe, Fotografien und Tagebücher. Aus den Realien im Zettelkasten, verwoben mit autobiographischen Erfahrungen entstand die Chronik einer deutschen Familie: Zeit- und Sozialgeschichte fließen ineinander, aus privaten Sprachmustern, historischen Tatsachen, individuellen und kollektiven Verwicklungen ergibt sich ein facettenreiches Bild der Zeit zwischen Kaiserreich und Wirtschaftswunder. Durch autonome Textpartikel – Zitate aus Gedichten, Schlagern und Parolen, aus Werbung und Zeitung bis hin zu Briefmarkenaufdrucken – fügte er der Ebene subjektiven Erlebens des Ich-Erzählers eine zweite, objektivierende Ebene hinzu, die jenseits schriftstellerischer Reflexion unmittelbar in die dargestellte Zeit zurückweist und beim Leser den Wiedererkennungseffekt eigenen Erlebens steigert.
Nach seinem Debüt „Im Block“ (1969) über die Haftzeit in Bautzen gelang Kempowski 1971 mit „Tadellöser & Wolff“ der Durchbruch als Schriftsteller. Es folgten die Bände „Uns geht’s ja noch gold“ (1972) und „Aus großer Zeit“ (1978). Mit „Herzlich Willkommen“ schloss er die „Deutsche Chronik“ 1984 ab. In vier Teilen, ohne Kurzstatements und Fremdtexte, wird die erste Zeit in Hamburg nach der Haftentlassung im Frühjahr 1956, der Aufenthalt in einem kirchlichen Heim in Locarno, das Studium in Göttingen und schließlich die Etablierung im Wirtschaftswunderland geschildert, mit Verlobung des Protagonisten und – als komischem Schluss – einer Familienfeier der Übriggebliebenen.
In der „Deutschen Chronik“, die vor allem eine Chronik des deutschen Bürgertums ist, hat Walter Kempowski ein großes Tableau deutscher Zeit- und Sozialgeschichte von 1885 bis 1960 als Geschichte der eigenen Familie exemplarisch inszeniert – ein beispielloses Unternehmen in der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine Montagetechnik perfektionierte Kempowski im „Echolot“, einem kollektiven Kriegstagebuch, das inzwischen auf 3000 Seiten und elf Bände angewachsen ist und die Jahre 1941, 1942 und 1945 behandelt – Collagen aus Briefen von Soldaten, Aufzeichnungen von Zivilisten und Beobachtungen von Künstlern. Das monumentale Werk soll den „Krebsgang der Menschheit“ auf eine Formel bringen. Der Autor tritt zurück und wird zur registrierenden Instanz.
Walter Kempowski, der heute im Haus Kreienhoop in Nartum bei Bremen lebt, arbeitet unermüdlich weiter. Seine Sammlung deutscher Zeitdokumente ist auf über 6300 unveröffentlichte Tagebücher und 300000 Privatfotos angewachsen. „Ich rase wie angestochen durchs Leben, weil dieses Gefühl immer schlimmer wird, vor Toresschluss noch ein Pensum abarbeiten zu müssen. Nachts sehe ich die Arbeit, die mich bedrängt, und morgens würde ich am liebsten gleichzeitig Pinkeln, Zähneputzen und Haare kämmen. Ich bin getrieben von der Vorstellung, ich müsste irgendwas wiedergutmachen. Ich weiß, es klingt großspurig, aber meine Arbeit ist mir aufgetragen. Wenn ich noch drei, vier Jahre habe, kriege ich den letzten ,Echolot’-Teil über den Mai 1945 fertig. 12000 Seiten Rohmanuskript habe ich schon.“
In seinem 75. Lebensjahr legt Walter Kempowski mit „Letzte Grüße“ einen neuen Roman vor, seinen zehnten. Es sind nur vordergründig die Abschiedsgrüße eines Amerikareisenden an seine Frau. Es sind auch Grüße an seine Leser – und darüber hinaus das Resümee eines Repräsentanten seiner Generation. Über die Auseinandersetzung eines Unzeitgemäßen mit den Werten des „Alten Europa“ im Angesicht der Neuen Welt, über Leben, Werk und zukünftige Projekte spricht Walter Kempowski in Erlangen mit der jungen Berliner Literaturkritikerin Maike Albath.

Termin: Sa, 30.8., 20 Uhr, Markgrafentheater

Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro

 

 

   

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