Schon als Kind hatte Kempowski kleine Erzählungen
verfasst, Szenen aus dem Familienleben und die Geschichte eines unangepassten
Hitlerjungen, beeindruckt von dem Schriftsteller Walter Görlitz,
der bei Kempowskis Eltern einige Jahre als Untermieter ein Zimmer bewohnte.
Seit dem ersten Tag in Freiheit plante Kempowski ein Buch über die
Haftzeit zu schreiben. Er befragte seine Mutter nach ihren Erlebnissen
im Frauengefängnis Hoheneck, später auch seinen Bruder über
die Jahre in Bautzen, und protokollierte mit dem Tonband. Erste Skizzen
wie „Zelle“ und „Gespräche im Knast“ entstanden.
Eine untergegangene Welt festzuhalten und literarisch zu verdichten, war
der Impuls zu Kempowskis neunbändiger „Deutscher Chronik“.
Den Ausgangspunkt seiner literarischen Arbeit bildete die Recherche: der
Autor sammelte Befragungen von Zeitzeugen, Tonbänder, Briefe, Fotografien
und Tagebücher. Aus den Realien im Zettelkasten, verwoben mit autobiographischen
Erfahrungen entstand die Chronik einer deutschen Familie: Zeit- und Sozialgeschichte
fließen ineinander, aus privaten Sprachmustern, historischen Tatsachen,
individuellen und kollektiven Verwicklungen ergibt sich ein facettenreiches
Bild der Zeit zwischen Kaiserreich und Wirtschaftswunder. Durch autonome
Textpartikel – Zitate aus Gedichten, Schlagern und Parolen, aus
Werbung und Zeitung bis hin zu Briefmarkenaufdrucken – fügte
er der Ebene subjektiven Erlebens des Ich-Erzählers eine zweite,
objektivierende Ebene hinzu, die jenseits schriftstellerischer Reflexion
unmittelbar in die dargestellte Zeit zurückweist und beim Leser den
Wiedererkennungseffekt eigenen Erlebens steigert.
Nach seinem Debüt „Im Block“ (1969) über die Haftzeit
in Bautzen gelang Kempowski 1971 mit „Tadellöser & Wolff“
der Durchbruch als Schriftsteller. Es folgten die Bände „Uns
geht’s ja noch gold“ (1972) und „Aus großer Zeit“
(1978). Mit „Herzlich Willkommen“ schloss er die „Deutsche
Chronik“ 1984 ab. In vier Teilen, ohne Kurzstatements und Fremdtexte,
wird die erste Zeit in Hamburg nach der Haftentlassung im Frühjahr
1956, der Aufenthalt in einem kirchlichen Heim in Locarno, das Studium
in Göttingen und schließlich die Etablierung im Wirtschaftswunderland
geschildert, mit Verlobung des Protagonisten und – als komischem
Schluss – einer Familienfeier der Übriggebliebenen.
In der „Deutschen Chronik“, die vor allem eine Chronik des
deutschen Bürgertums ist, hat Walter Kempowski ein großes Tableau
deutscher Zeit- und Sozialgeschichte von 1885 bis 1960 als Geschichte
der eigenen Familie exemplarisch inszeniert – ein beispielloses
Unternehmen in der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine Montagetechnik
perfektionierte Kempowski im „Echolot“, einem kollektiven
Kriegstagebuch, das inzwischen auf 3000 Seiten und elf Bände angewachsen
ist und die Jahre 1941, 1942 und 1945 behandelt – Collagen aus Briefen
von Soldaten, Aufzeichnungen von Zivilisten und Beobachtungen von Künstlern.
Das monumentale Werk soll den „Krebsgang der Menschheit“ auf
eine Formel bringen. Der Autor tritt zurück und wird zur registrierenden
Instanz.
Walter Kempowski, der heute im Haus Kreienhoop in Nartum bei Bremen lebt,
arbeitet unermüdlich weiter. Seine Sammlung deutscher Zeitdokumente
ist auf über 6300 unveröffentlichte Tagebücher und 300000
Privatfotos angewachsen. „Ich rase wie angestochen durchs Leben,
weil dieses Gefühl immer schlimmer wird, vor Toresschluss noch ein
Pensum abarbeiten zu müssen. Nachts sehe ich die Arbeit, die mich
bedrängt, und morgens würde ich am liebsten gleichzeitig Pinkeln,
Zähneputzen und Haare kämmen. Ich bin getrieben von der Vorstellung,
ich müsste irgendwas wiedergutmachen. Ich weiß, es klingt großspurig,
aber meine Arbeit ist mir aufgetragen. Wenn ich noch drei, vier Jahre
habe, kriege ich den letzten ,Echolot’-Teil über den Mai 1945
fertig. 12000 Seiten Rohmanuskript habe ich schon.“
In seinem 75. Lebensjahr legt Walter Kempowski mit „Letzte Grüße“
einen neuen Roman vor, seinen zehnten. Es sind nur vordergründig
die Abschiedsgrüße eines Amerikareisenden an seine Frau. Es
sind auch Grüße an seine Leser – und darüber hinaus
das Resümee eines Repräsentanten seiner Generation. Über
die Auseinandersetzung eines Unzeitgemäßen mit den Werten des
„Alten Europa“ im Angesicht der Neuen Welt, über Leben,
Werk und zukünftige Projekte spricht Walter Kempowski in Erlangen
mit der jungen Berliner Literaturkritikerin Maike Albath.
Termin: Sa, 30.8., 20 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,- / erm. 3,50 bis 9,50 / erm. 8,- Euro |