Lesungen und Gespräche
Das Lyrik-Paket
Die Beschleunigung des Denkens
Ein Gedicht, hat der Literaturnobelpreisträger
Joseph Brodsky einmal gesagt, ist ein zuverlässigerer Gesprächspartner
als ein Freund oder eine Geliebte. In dem intimen Verhältnis zwischen
Gedicht und Leser können sich die Koordinaten unseres Weltverständnisses
unerwartet und plötzlich verschieben. Denn wer Gedichte schreibt,
und auch wer sie liest, tut dies tatsächlich vor allem, weil er mit
dem Gedicht das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche
Weise beschleunigen kann. Wer erst einmal diese geistige Beschleunigung
am eigenen Leib erlebt hat, ist nicht mehr in der Lage, auf dieses Erlebnis
zu verzichten: Er wird abhängig von Gedichten, so wie andere von
Drogen oder Alkohol abhängig werden.
Auf dem Erlanger Poetenfest war in den vergangenen Jahren selten Gelegenheit,
an diesen mentalen Suchterlebnissen und Berauschungsprozessen via Lyrik
teilzuhaben. Das wird sich mit der 23. Auflage des Poetenfestes ändern.
Im literarischen Tandem treten hier die Lyriker auf die Bühne –
und es wird sich zeigen, dass die Sprachobsessionen der Dichter nicht
ein narzisstisches Privatvergnügen sind, sondern ein erkenntnisförderndes
Vergnügen von gesellschaftlichem Aussagewert.
Es sind sehr unterschiedliche poetische Temperamente und sehr eigensinnige
Stimmen, die auf dem 23. Poetenfest zu Wort kommen. Da ist zum einen der
ketzerisch erprobte Sprachakrobat und Vergnüglichkeits-Poet Franzobel
(vormals: Franz Stefan Griebl), ein hervorragender Zeremonienmeister seiner
selbst, der auf Farhad Showghi trifft, den staunend zwischen den Sprachen
sich bewegenden Poeten, der „die große Entfernung“ zwischen
Sprache und Ding zu vermessen versucht. Da ist zum andern der lyrische
Vitalist und Form-Prophet Matthias Politycki, dem die raunenden Moralisten
und heuchelnden Sinnhuber ein Graus sind und der stattdessen die Kunst
des humoristisch grundierten Sonetts liebt. Er wird sich mit Ulf Stolterfoht
treffen, dem Wortkomödianten, Satz-Zerleger und Zitat-Kompilator,
der alle unsere Definitionen und Gewissheiten systematisch umzustürzen
versteht. Gemeinsam werden sie mit ihrer Sprachkunst unsere Alltagsrede
aus den Angeln heben.
Michael Braun
Beim Lyrik-Paket des Erlanger Poetenfests tritt die Sprache in Verbindung
mit der Musik: Die in New York lebende Violinistin und Sopranistin Rosi
Hertlein und der Erlanger Pianist Klaus Treuheit begleiten die Lesungen
auf ungewöhnliche Weise.
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