Ingrid Noll


   

Liegt es daran, dass die Arzttochter Ingrid Noll in Shanghai geboren wurde? Sind die vierzehn Jahre, die sie von 1935 bis 1949 in China zubrachte, so etwas, wie die heimliche Quelle ihrer kriminalistisch gesteuerten Phantasie? Jedenfalls war die Überraschung groß, als die Mutter von drei Kindern ihrem Lieblingsverlag ein unverlangtes Manuskript mit dem Titel „Der Hahn ist tot“ schickte und man im Zürcher Diogenes Verlag „ja“ sagte: Der Erstling erschien 1991 und wurde ein Sensationserfolg. „Der Hahn ist tot“ wurde zwar nicht fürs Kino verfilmt wie „Die Apothekerin“, „Die Häupter meiner Lieben“ und „Kalt ist der Abendhauch“, aber die Senkrechtstarterin Noll war nicht mehr zu bremsen. Seit 1991 sind zehn Romane erschienen. Der „Luxus“ zu schreiben, den Ingrid Noll sich neben den Kindern und der Mitarbeit in der Praxis ihres Mannes erst mit weit über fünfzig leistete, ist längst kein Luxus mehr.
Zu einem Krimi gehören Morde und die Frage nach dem Mörder. In dem neuesten Roman „Rabenbrüder“ kommt vieles vor, was das Leben, die Familie und die innerfamiliären Komplikationen bieten. Zwei Brüder sind noch immer aufeinander eifersüchtig, weil der eine glaubt, die Mutter habe den anderen mehr als ihn geliebt. Paul, der mäßig erfolgreiche Rechtsanwalt, ist mit einer erfolgreichen Frau verheiratet, und weil alles gerade ein bisschen langweilig ist, hat er mit der Frau seines besten Freundes ein Verhältnis begonnen. Achim, der jüngere Bruder, handelt mit Autos, aber die Geschäfte gehen nicht gut, außerdem ist er eine Spielernatur. Nach dem Schlaganfall des Vaters werden beide ans Krankenbett gerufen, und weil dann Dinge passieren, die sich Paul nie hätte träumen lassen und er auch noch Schuld an einem Verkehrsunfall hat, in dem er ein wenig und seine Frau erheblich mehr verletzt wird, reißt die Kette unerwarteter, erschreckender und schrecklicher Ereignisse nicht ab. Die „Rabenbrüder“ haben Gelegenheit sich auszusprechen, die „Rabenmutter“ gerät plötzlich in schiefes Licht, und das Schönste an der allgemeinen Verwirrung ist, dass Ingrid Noll die Rollenerwartung an die Geliebte und die Ehefrau unterläuft und zeigt, dass die schlechten Menschen auch gute Seiten haben, und dass ihre Schlechtigkeit Gründe haben kann. (V.A.)
Ingrid Noll lebt heute in Weinheim. Auszeichnungen u.a.: Glauser-Preis (1994), Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (2002).

  Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Der Hahn ist tot“, Roman, Diogenes, Zürich 1991, Taschenbuch ebd. 1993
– „Die Häupter meiner Lieben“, Roman, Diogenes, Zürich 1993, Taschenbuch ebd. 1994
– „Die Apothekerin“, Roman, Diogenes, Zürich 1994, Taschenbuch ebd. 1996
– „Der Schweinepascha“, Kinderbuch, Illustrationen, Diogenes, Zürich 1996, Taschenbuch ebd. 2001
– „Kalt ist der Abendhauch“, Roman, Diogenes, Zürich 1996, Taschenbuch ebd. 1998
– „Der kleine Mord zwischendurch. 52 üble Kurzkrimis“, Hrsg. Manuela Kessler, Scherz, Bern u.a. 1997
– „Stich für Stich. Fünf schlimme Geschichten“, Kurzgeschichten, Diogenes, Zürich 1997
– „Röslein Rot“, Roman, Diogenes, Zürich 1998, Taschenbuch ebd. 2000
– „Die Sekretärin. Drei Rachegeschichten“, Diogenes, Zürich 2000
– „Selige Witwen“, Roman, Diogenes, Zürich 2001, Taschenbuch ebd. 2002
– „Rabenbrüder“, Roman, Diogenes, Zürich 2003
Verfilmungen:
– „Die Apothekerin“, Kinofilm, Regie: Rainer Kaufmann, D 1997
– „Die Häupter meiner Lieben“, Kinofilm: Regie: Hans-Günther Bücking, D 1999
– „Der Hahn ist tot“, Fernsehfilm, Regie: Hermine Hunthgeburt, ZDF 1999
– „Kalt ist der Abendhauch“, Kinofilm, Regie: Rainer Kaufmann, D 2000
 

Termine:
– So, 31.8., 16.00 Uhr, Schlossgarten

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