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Foto: Georg Pöhlein
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In seinen literarischen Anfängen brillierte
der 1964 in Düren geborene Michael Lentz als Virtuose der Sprachperformance,
des furiosen Sprechakts und der lautpoetischen Exaltation. Mitte der 80er
Jahre hatte er seine Vaterstadt Düren mit einem Bündel Gedichte
und einem Saxophon im Handgepäck verlassen, um die Welt der Literatur
zu erobern. Damals begannen auch die ersten Recherchen zu seiner Dissertation,
die er 1998 abschloss: eine über tausend Seiten umfassende Geschichte
und Dokumentation der modernen Lautpoesie, aus der er für seine eigene
Poetik entscheidende Schlussfolgerungen gezogen hat. Den Zerfall der literarischen
Avantgarde hat Lentz nicht als Theoretiker, sondern als Erzähler
beschrieben, in dem ergreifenden Prosastück „Il était
une fois ...“, das im Zentrum seines Prosabuches „Muttersterben“(2002)
steht. Hier wird der Traum der Avantgarde ganz auf die Elementarbilder
eines Menschenlebens zurück geführt: auf Körper, Sprache
und Stimme. Der Text handelt von zwei Besuchen Lentz’ in der Pariser
Wohnung des greisen Avantgardisten Isidore Isou. Der Grafomane Isou, der
Begründer des Lettrismus, der den Traum von sprachrevolutionärer
Bewegung und Dynamik durch unablässiges Schreiben verwirklichen wollte,
ist hier zum Pflegefall geworden, fast bewegungsunfähig, und in eine
Starrheit zurück gesunken, die ihm das Sprechen fast unmöglich
macht. Lentz’ Meisterstück, sein 2001 in Klagenfurt preisgekrönter
Text „Muttersterben“, signalisierte die Verschiebung der Koordinaten
im Literaturverständnis des Autors. Der Tod der Mutter des Autors
hat hier den Umgang des Autors mit Sprache verändert. Die schwarze
Epiphanie des Abschiedsblicks auf die sterbende Mutter hat sich in viele
Gedichte des Bandes „Aller Ding“ (2002) eingeschrieben. Eines
der bewegendsten Erinnerungsbilder, das ursprünglich am Ende eines
Prosatextes, nämlich der Erzählung „Garten“ stand,
hat Lentz sogar in ein eigenständiges Gedicht verwandelt: „und
einmal wird ein engel kommen / der deinen namen ruft./ und dieser engel
ist eine wolke dann, / ein sonnenlicht, ein apfelbaum. / und dieser engel
ist eine gartenvoll lachen / auf dem gesicht deiner mutter./ und dieser
engel ist das lachen deiner mutter.“
Der erste Roman von Michael Lentz, das autobiografische Buch „Liebeserklärung“,
markiert einen literarischen Neuanfang. Der Ich-Erzähler tritt heraus
aus allen Beschränkungen und Begrenzungen seines Lebens: Die Leidenschaft
einer neuen Liebe verwandelt der Held in einen Akt der Befreiung und der
sexuellen Übertretung. Lentz’ Prosa, gelenkt von einer heftigen
Assoziationsdynamik, ist vorangetrieben von einem fast heiligen Eros,
an der Grenzlinie zur Pornografie. So werden sie in diesem ebenso schamlosen
wie zärtlichen Buch wiederentdeckt: die „Fragmente einer Sprache
der Liebe“. (M.B.)
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Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Neue Anagramme“, edition selene, Wien 1998, Taschenbuch,
S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003
– „Oder. Prosa“, edition selene, Wien 1998, Fischer
Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 2003
– „Lautpoesie-/musik nach 1945“, 2 Bde., Dissertation,
edition selene, Wien 2000
– „Es war einmal… Il était une fois…“,
Erzählung, edition selene, Wien 2001
– „Ende gut. Sprechakte“, mit Audio-CD, edition selene,
Wien 2001
– „Muttersterben“, Erzählungen, S. Fischer, Frankfurt
a.M. 2002, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M., Februar 2004, als
Audiobook, DHV, München 2002
– „Aller Ding“, Gedichte, S. Fischer, Frankfurt a.M.
2003
– „Liebeserklärung“, Roman, S. Fischer, Frankfurt
a.M., September 2003, als Audiobook DHV, München, September 2003
– „Jahrbuch der Lyrik 2005“, Mithrsg., C.H. Beck, Frühjahr
2004
Zur Akustischen Kunst (Auswahl):
– „Musiksprechen. Die ‚Akustischen Lautgedichte’
des Komponisten Josef Anton Riedl“, DLR Berlin, 22.07.1997
– „VerbiVisiVocals. Bob Cobbing’s concrete sound performance“,
B2, Forum Musik, 10.11.1997
– „Ich bin ein Futurist, der Futurist geblieben ist’.
Die Verbophonien des Lautmusikers Arthur Pétronio“, B2, Forum
Musik, 03.08.1998
– „Lautpoesie der Reduktion. Wechselseitige Bedingtheiten
von Stimme und Schrift in Gerhard Rühms ‚auditiver poesie’“,
in: „Dossier 15: Gerhard Rühm“, Droschl, Graz 1999
– „Sonosoph & Co. Zur Klangästhetik der Schwedischen
Text-Sound-Komponisten“, B2, Forum Musik, 17.01.2000
– „Soundbox. Akustische Kunst“, zus. mit Rudolf Frisius,
B2, Forum Musik, 29.07.2000
– „Musiksprechen. Die andere Tradition. Eine Geschichte der
Lautpoesie in zwei Kapiteln“, SWR, 2./14./21.05.2001
Sprechakte (Auswahl):
– „Absprache. 5 Sprechakte“, Hörspiel, B2, Ursendung
04.10.1995
– „wie es früher war“, zus. mit Zoro Babel, für
1 Sprecher, CD und live, Blechspielzeug, Effektgerät, Trommelspind,
1995-2000
– „jedoch immerhin“, für 1 Sprecher, CD und live,
1 Schlagzeuger, 3 Papierwerfer, 1998
– „wechsel: ein wehen“ für 1 Sprecher, CD und live,
Uhrgeräusche CD, 2000
– „so zu sagen. prosasprechakt für dieter schnebel“,
für 1 Sprecher, Uhrgeräusche CD und live, 2 live bediente Kassettenspielgeräte
mit Pitch-Control, 2000
– „arance dal marocco“, zus. mit Zoro Babel, Text-Sound
Composition für 4 akustische und 5 elektrische Gitarren, Sampler,
Talkbox, Sprechen live und CD, CD-Einspielung, 2001
– „Ich sage jetzt mal: Arnold Schönberg“, für
1 Sprecher, CD, Blechspielzeug, 2002
– „Tell me“, nach einem Märchen von Hans Christian
Andersen, zus. mit Lucy Guerin, für 1 Sprecher, CD und live, 2 Tänzer,
Blechspielzeug, Musik, Video, Licht, Melbourne/Berlin 2003
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