Michael Lentz


   

In seinen literarischen Anfängen brillierte der 1964 in Düren geborene Michael Lentz als Virtuose der Sprachperformance, des furiosen Sprechakts und der lautpoetischen Exaltation. Mitte der 80er Jahre hatte er seine Vaterstadt Düren mit einem Bündel Gedichte und einem Saxophon im Handgepäck verlassen, um die Welt der Literatur zu erobern. Damals begannen auch die ersten Recherchen zu seiner Dissertation, die er 1998 abschloss: eine über tausend Seiten umfassende Geschichte und Dokumentation der modernen Lautpoesie, aus der er für seine eigene Poetik entscheidende Schlussfolgerungen gezogen hat. Den Zerfall der literarischen Avantgarde hat Lentz nicht als Theoretiker, sondern als Erzähler beschrieben, in dem ergreifenden Prosastück „Il était une fois ...“, das im Zentrum seines Prosabuches „Muttersterben“(2002) steht. Hier wird der Traum der Avantgarde ganz auf die Elementarbilder eines Menschenlebens zurück geführt: auf Körper, Sprache und Stimme. Der Text handelt von zwei Besuchen Lentz’ in der Pariser Wohnung des greisen Avantgardisten Isidore Isou. Der Grafomane Isou, der Begründer des Lettrismus, der den Traum von sprachrevolutionärer Bewegung und Dynamik durch unablässiges Schreiben verwirklichen wollte, ist hier zum Pflegefall geworden, fast bewegungsunfähig, und in eine Starrheit zurück gesunken, die ihm das Sprechen fast unmöglich macht. Lentz’ Meisterstück, sein 2001 in Klagenfurt preisgekrönter Text „Muttersterben“, signalisierte die Verschiebung der Koordinaten im Literaturverständnis des Autors. Der Tod der Mutter des Autors hat hier den Umgang des Autors mit Sprache verändert. Die schwarze Epiphanie des Abschiedsblicks auf die sterbende Mutter hat sich in viele Gedichte des Bandes „Aller Ding“ (2002) eingeschrieben. Eines der bewegendsten Erinnerungsbilder, das ursprünglich am Ende eines Prosatextes, nämlich der Erzählung „Garten“ stand, hat Lentz sogar in ein eigenständiges Gedicht verwandelt: „und einmal wird ein engel kommen / der deinen namen ruft./ und dieser engel ist eine wolke dann, / ein sonnenlicht, ein apfelbaum. / und dieser engel ist eine gartenvoll lachen / auf dem gesicht deiner mutter./ und dieser engel ist das lachen deiner mutter.“
Der erste Roman von Michael Lentz, das autobiografische Buch „Liebeserklärung“, markiert einen literarischen Neuanfang. Der Ich-Erzähler tritt heraus aus allen Beschränkungen und Begrenzungen seines Lebens: Die Leidenschaft einer neuen Liebe verwandelt der Held in einen Akt der Befreiung und der sexuellen Übertretung. Lentz’ Prosa, gelenkt von einer heftigen Assoziationsdynamik, ist vorangetrieben von einem fast heiligen Eros, an der Grenzlinie zur Pornografie. So werden sie in diesem ebenso schamlosen wie zärtlichen Buch wiederentdeckt: die „Fragmente einer Sprache der Liebe“. (M.B.)

 

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Neue Anagramme“, edition selene, Wien 1998, Taschenbuch, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003
– „Oder. Prosa“, edition selene, Wien 1998, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M. 2003
– „Lautpoesie-/musik nach 1945“, 2 Bde., Dissertation, edition selene, Wien 2000
– „Es war einmal… Il était une fois…“, Erzählung, edition selene, Wien 2001
– „Ende gut. Sprechakte“, mit Audio-CD, edition selene, Wien 2001
– „Muttersterben“, Erzählungen, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2002, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M., Februar 2004, als Audiobook, DHV, München 2002
– „Aller Ding“, Gedichte, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003
– „Liebeserklärung“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a.M., September 2003, als Audiobook DHV, München, September 2003
– „Jahrbuch der Lyrik 2005“, Mithrsg., C.H. Beck, Frühjahr 2004
Zur Akustischen Kunst (Auswahl):
– „Musiksprechen. Die ‚Akustischen Lautgedichte’ des Komponisten Josef Anton Riedl“, DLR Berlin, 22.07.1997
– „VerbiVisiVocals. Bob Cobbing’s concrete sound performance“, B2, Forum Musik, 10.11.1997
– „Ich bin ein Futurist, der Futurist geblieben ist’. Die Verbophonien des Lautmusikers Arthur Pétronio“, B2, Forum Musik, 03.08.1998
– „Lautpoesie der Reduktion. Wechselseitige Bedingtheiten von Stimme und Schrift in Gerhard Rühms ‚auditiver poesie’“, in: „Dossier 15: Gerhard Rühm“, Droschl, Graz 1999
– „Sonosoph & Co. Zur Klangästhetik der Schwedischen Text-Sound-Komponisten“, B2, Forum Musik, 17.01.2000
– „Soundbox. Akustische Kunst“, zus. mit Rudolf Frisius, B2, Forum Musik, 29.07.2000
– „Musiksprechen. Die andere Tradition. Eine Geschichte der Lautpoesie in zwei Kapiteln“, SWR, 2./14./21.05.2001
Sprechakte (Auswahl):
– „Absprache. 5 Sprechakte“, Hörspiel, B2, Ursendung 04.10.1995
– „wie es früher war“, zus. mit Zoro Babel, für 1 Sprecher, CD und live, Blechspielzeug, Effektgerät, Trommelspind, 1995-2000
– „jedoch immerhin“, für 1 Sprecher, CD und live, 1 Schlagzeuger, 3 Papierwerfer, 1998
– „wechsel: ein wehen“ für 1 Sprecher, CD und live, Uhrgeräusche CD, 2000
– „so zu sagen. prosasprechakt für dieter schnebel“, für 1 Sprecher, Uhrgeräusche CD und live, 2 live bediente Kassettenspielgeräte mit Pitch-Control, 2000
– „arance dal marocco“, zus. mit Zoro Babel, Text-Sound Composition für 4 akustische und 5 elektrische Gitarren, Sampler, Talkbox, Sprechen live und CD, CD-Einspielung, 2001
– „Ich sage jetzt mal: Arnold Schönberg“, für 1 Sprecher, CD, Blechspielzeug, 2002
– „Tell me“, nach einem Märchen von Hans Christian Andersen, zus. mit Lucy Guerin, für 1 Sprecher, CD und live, 2 Tänzer, Blechspielzeug, Musik, Video, Licht, Melbourne/Berlin 2003

 

Termine:
– Sa, 30.8.2003, 23.00 Uhr, Glocken-Lichtspiele
– So, 31.8.2003, 15.00 Uhr, Schlossgarten

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