Kerstin Hensel


   

Unter den Autoren, die der untergegangenen DDR letzte Grüße, Abrechnungen, Sentimentalitäten hinterher schreiben, nimmt die 1961 im damaligen Karl-Marx-Stadt und heutigen Chemnitz geborene Kerstin Hensel eine Sonderstelle ein. Nicht so sehr, weil ihre Haltung kritisch ist, sondern weil sie eine poetische und eigenwillige Sprache sucht und findet, um eine (Heimat-)Vergangenheit lebendig werden zu lassen. In dem Roman „Im Spinnhaus“ erzählt sie Lebensepisoden aus dem letzten Jahrhundert. Zentrum der Geschichten ist der Ort Neuwelt im Erzgebirge, da, wo der schönste Weihnachtskitsch herkommt: fein Geschnitztes, Räuchermännchen, Kerzenpyramiden und Engelschöre. Hier steht das von Kerstin Hensel erfundene Spinnenhaus. Flachs wird gesponnen und Wäsche gewaschen. Allen Menschen, die darin leben und arbeiten, begegnet Sonderbares. Frauen werden schwanger und tragen ihr Kind zehn Jahre im Bauch, ein Bär geistert durch die Gegend wie der Allmächtige, kleine Kinder laufen von zu Hause fort und verwachsen mit dem Stamm harziger Bäume, Männer ziehen in den Krieg und schicken ihre blutigen Uniformen zum Waschen nach Hause, ein Junge verliert ein Bein und erfindet Prothesen. Nach den zwei Weltkriegen und den vierzig Jahren DDR-Diktatur wird nach der Wende das Spinnhaus in ein Museum umgewandelt. Eine Frau spinnt Flachs. Weil aber niemand kommt, um ihr beim Spinnen zuzusehen und mit dem gesponnenen Garn gar nichts Nützliches anzufangen ist, verliert die Frau die Lust. Sie will lieber den Wald fegen, als noch einmal das Spinnrad anfassen. Und dann liegt der Bär auf dem Weg, brummt und drängt mit seiner Schnauze an ihren Mund, und sie sagt „Heiliger Bimbam“, und die Jäger sind hinter dem Tier her, und das Spinnhaus wird für den Publikumsverkehr geschlossen. Im letzten Kapitel des Buches hat der Bär einen sehr schönen Auftritt, und Kerstin Hensel macht ihren Lesern deutlich, wie das mit den Bildern und der Phantasie ist, und dass man nicht glauben soll, was man sieht. Zwischen nah und fern, klar und verschwommen, real und irreal schwanken die Geschichten und die Personen, die darin vorkommen. Ein Buch wie ein Traum, geschrieben in einer Sprache, die alte Worte und große Bilder liebt und erfindet. „Im Spinnhaus“ ist eine subtile Kritik an Krieg und Mann, an Politik und am Wahnsinn der Geschichte. (V.A.)
Auszeichnungen u.a.: Anna-Seghers-Preis der Akademie der Künste Berlin (1987), Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt (1991), Stipendium der Villa Massimo in Rom (1995), Förderpreis des Brandenburgischen Literaturpreises (1996), Gerrit-Engelke-Literaturpreis der Stadt Hannover (1999).

  Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Poesiealbum 222“, Gedichte, Neues Leben, Berlin 1986
– „Stilleben mit Zukunft“, Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, Halle 1988
– „Hallimasch“, Erzählungen, Luchterhand, Frankfurt a.M. 1989
– „Ulriche und Kühleborn“, Erzählung, Reclam, Leipzig 1990
– „Schlaraffenzucht“, Gedichte, Luchterhand, Frankfurt a.M. 1990
– „Auditorium panopticum“, Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle 1991
– „Gewitterfront“, Gedichte, Mitteldeutscher Verlag, Halle 1991
– „Angestaut. Aus meinem Sudelbuch“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 1993
– „Im Schlauch“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1993
– „Tanz am Kanal“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1994, Taschenbuch, ebd. 1997
– „Augenpfad“, Gedichte und Prosa, Edition Balance, Gotha 1995
– „Kreuzzertretung. Gedichte, Prosa, Briefe“, Hrsg., Reclam, Leipzig 1995
– „Neunerlei“, Erzählungen, Gustav Kiepenheuer, Leipzig 1997
– „Alles war so, alles war anders. Bilder aus der DDR“, Gustav Kiepenheuer, Leipzig 1999
– „Gipshut“, Roman, Gustav Kiepenheuer, Leipzig 1999
– „Bahnhof verstehen“, Gedichte, Luchterhand, München 2001
– „11. 9. – 911. Bilder des neuen Jahrhunderts“, zus. mit Dagmar Leupold und Marica Bodrozic, Wallstein, Göttingen 2002
– „Im Spinnhaus“, Roman, Luchterhand, München 2003
Hörspiele (Auswahl):
– „Der Fensterputzer“, 1992
– „Der Spielmannszug“, 1992
– „Die Gespenster der Lavant“, 1993
Filme:
– „Leb wohl, Joseph“, Regie: Andreas Kleinert, D 1989
– „Der Kontrolleur“, Regie: Kerstin Hensel, Stefan Trampe, D 1995
 

Termin:
– Sa, 30.8., 15.30 Uhr, Schlossgarten

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