Podium International: Margriet de Moor


   

„Variations Pathétiques – Liebe und Musik“

Vielleicht wollte Margriet de Moor die niederländische Maria Callas werden oder wie Martha Argherich in den Musiksälen der Welt auf den Bechsteins und Steinways Zwiesprache mit großen Komponisten halten. Und was hat sie getan? Sie wurde tatsächlich eine respektable Sängerin. Aber dann entschied sie sich um, benutzte ihren Sopran, um ihren zwei Töchtern die Lieder von Katz, Hund, Fisch, Sonne, Mond und Sterne vorzusingen, studierte Kunstgeschichte, damit sie besser beurteilen konnte, in welcher Tradition die Werke standen, die das Atelier ihres Mannes, des Bildhauers Heppe de Moor, verließen. Margriet de Moor war eine Frau in den Vierzigern, als sie begann, Erzählungen zu schreiben, und sie war fünfzig, als ihr erster Roman „Erst grau dann weiß dann blau“ erschien, der 1993 auch in unsere Buchhandlungen kam. Der Erfolg war überwältigend. Seit damals, seit Magda in „Erst grau dann weiß dann blau“ eines Tages ohne Vorwarnung aus Roberts Welt verschwand, weil ihr klar geworden war, „dass sich ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man seelenruhig genauso hätte führen können“, gilt Margriet de Moor als Expertin für verzwickte Liebesangelegenheiten. Denn es sind die Nuancen, eigentlich ist es dieses Schweben zwischen den Tonlagen, zwischen Liebe oder Betrug, zwischen der Sehnsucht und der Wirklichkeit, die sie in ihren Büchern, in denen die Musik immer eine tragende Rolle spielt, zur Sprache bringt, und es ist dieses Schweben, das ihre Leser fasziniert und ihren internationalen Erfolg ausmacht.

 

Dass eine nüchterne Niederländerin ekstatische Romane schreiben kann, bewies Margriet de Moor auch im „Virtuosen“. Sie spart in dieser wilden Liebesgeschichte an nichts. Ein Kastrat, nackt auf einem Satintuch, eine Contessa über ihm, das ist doch schon was Besonderes!
Passion, Zweifeln, Eifersucht, Misstrauen und der Wahnsinn, der mit den Phantasien wächst, ist die psychologische Grundstimmung ihrer neuen Liebesgeschichte mit dem Titel „Kreutzersonate“. Da Margriet de Moor eine glänzende Dramaturgin ist, kennt sie die Mittel und weiß, wie sich Sinnlichkeit, Kälte und Verzweiflung übertragen lassen. Schon im Titel legt sie ihre Karten auf den Tisch. Der späte Tolstoi schloss 1891 seine „Kreutzersonate“ ab, eine Erzählung, die als Gespräch zwischen Reisenden in einem Eisenbahnwaggon über eheliche Beziehungen, Ehebruch, Gereiztheit, Verbitterung und Hass geführt wird. Tolstois Vasili Pozdnysev ist davon überzeugt, dass nur die sinnliche Liebe existiert, die Ehe hingegen ein einziger Betrug ist. Margriet de Moors blinder Musikkritiker Marius van Vlooten denkt ähnlich. Beethovens „Kreutzersonate“ inspirierte Tolstoi. Margriet de Moor bezieht sich auf Janáceks Streichquartett „Kreutzersonate“, entstanden 1923.
Unserer Gegenwart angemessen, finden in Margriet de Moors Roman die Gespräche zwischen den Reisenden nicht im Eisenbahnwaggon statt, sondern in Flughafenlobbys, während des Fluges von Schiphol über Brüssel nach Bordeaux und zehn Jahre später auf dem Weg von Schiphol zu den Salzburger Festspielen. Wie bei Tolstoi hat der Erzähler, auch ein Musikwissenschaftler, kein Eigenleben, er ist der Butler der Autorin, nur dazu da, die Erzählung in Gang zu bringen und zu unterbrechen, weil die Stewardess gerade das Aufsetzen der Sauerstoffmaske erklärt. Dass der „Patriziersohn“ Marius van Vlooten ein irrationaler Mensch ist, erfährt man in der dritten Zeile der Moor’schen „Kreutzersonate“. Einer unglücklichen Liebe wegen hatte sich der Student van Vlooten eine Kugel in den Schädel gejagt, war aber mit dem Leben, wenn auch ohne Augenlicht, davongekommen.
Einen Blinden und den Weg der allmählich um sich greifenden inneren Verfinsterung zu beschreiben, gehört zu den großen Aufgaben, die sich Margriet de Moor in ihrem kurzen Roman stellt. Marius van Vlooten wird vom Erzähler als aufbrausend, nicht sehr sympathisch, mit rot anlaufendem Gesicht geschildert. In Bordeaux, im Château Mähler-Bresse, trifft er Suzanna Flier, erste Geigerin des „Schulhoff Kwartets“, der mitreisende Erzähler macht die beiden bekannt und erklärt van Vlooten, Suzanna und dem Leser, was sich zwischen der schönen jungen Frau und dem blinden Kritiker entwickelt. Margriet de Moors „Kreutzersonate“ ist auf einem Missverständnis aufgebaut. Der junge, damals noch nicht erblindete Student Marius van Vlooten und der blinde Musikkritiker verlangen nach der Frau als Eigentum. Van Vlootens unbedingter Anspruch bringt ihn einmal fast um, beim zweiten Mal bleibt er verbittert zurück. Das ist Margriet de Moors Botschaft und der Grund, weshalb die Liebesgeschichte unglücklich endet. Das Blindsein fordert ein genaueres Hinsehen. Das zu beschreiben ist eine große Kunst. Margriet de Moor sympathisiert weder mit dem Mann, noch mit der Frau, sie urteilt nicht, sie stellt dar. Sie schreibt aus der männlichen Perspektive und zeigt auf den Irrtum, den das Wort Liebe auslösen kann. Die „Kreutzersonate“ ist ein kluges aufregendes Buch, in dem viele Bücher stecken, Tolstoi und Vladimir Nabokov, aber auch ein Krimi und eine sehr raffinierte Beschreibung von drei unserer fünf Sinne: Sehen, Hören und Fühlen.
Verena Auffermann

 

Termin: Samstag, 31. August 2002, 20.30, Markgrafentheater, Podium International: Margriet de Moor

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