Das aktuelle Podium


   

„Ich werde ihm meine Feder durch den Leib jagen“ (Honoré de Balzac)
Über Skandal und Kritik aus aktuellem Anlass: Die Walseraffäre und die Folgen

Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Am 29. Mai 2002 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen offenen Brief ihres Mitherausgebers Frank Schirrmacher an den Schriftsteller Martin Walser. Der folgende Donner hielt den ganzen Sommer über an.
Walser bzw. sein Verlag, der Frankfurter Suhrkamp Verlag, hatte auch den neuen Roman „Tod eines Kritikers“ der FAZ zum Vorabdruck angeboten. Seit langen Jahren waren alle Walser-Romane in der FAZ vorabgedruckt worden. Diesmal schien der Fall etwas delikater.
Der „Tod eines Kritikers“, durchaus als Schlüsselroman angelegt, wies dem einstigen Leiter des Literaturteils der FAZ, Marcel Reich-Ranicki, die entsprechende Schlüsselrolle zu. E
in kleines Scharmützel, vielleicht. Doch Schirrmachers Reaktion, von einer bislang unerhörten Drastik, machte aus dem möglichen Fall einen veritablen Skandal. „Ihr Roman ist eine Exekution“, schrieb Schirrmacher an den „lieben Herrn Walser“. Und Schirrmacher, im Besitz einer einzigartigen „Deutungshoheit“ – kein Mensch kannte bis zu diesem Tag den nur als unfertiges Manuskript vorliegenden Text – ging noch weiter: er bezichtigte Walser, mit kraftvoller Gestik, des Antisemitismus. Pathetisch schloss er: „Ihre Freiheit ist unsere Niederlage“.
Seitdem wird über Walser diskutiert. Zu Recht. Dabei ist es auch zu bemerkenswerten Frontverschiebungen gekommen und zu einer ganzen Reihe von Nebenkriegsschauplätzen. Viele alte Rechnungen wurden wieder aufgemacht. In der Süddeutschen Zeitung, zum Beispiel, war Jürgen Habermas zu lesen, der eine FAZ-Position einnahm. In der FAZ ließ sich Karl Heinz Bohrer vernehmen, der eine Art potenzierter SZ-Position vertrat. Reich-Ranicki selber, der anfangs noch meinte, es gäbe achtzig Millionen Deutsche, die sich äußern könnten, er müsse das nicht, erkannte in Walsers Buch schließlich die Aufforderung „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Jude.“
So wurde gestritten, hart und erbittert. Und eben auch zu Recht, wenn auch oft mit verdeckten Karten. So wurde diskutiert, was zu diskutieren war und ist, wenn auch oft aus unklaren Motiven. Und so stellen sich nach wie vor viele Fragen.
Der Vorwurf des Antisemitismus wirft Probleme auf, die weit über das Buch hinausreichen.
Das Buch selbst, oft zum bloßen Anlass geworden, bietet hinreichend Stoff zur Diskussion.
Schließlich stellt sich auch die Frage nach einer Literaturkritik, die den Bedingungen unseres gegenwärtigen Literaturbetriebs zu genügen hat.
Martin Lüdke

 

 

 

Termin:
Donnerstag, 29. August 2002, 19 Uhr, Markgrafentheater

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