Martin Lüdke im Gespräch mit Verena
Auffermann
Es gibt, das mag überraschen, auch unbestreitbar gute
amerikanische Traditionen. So, zum Beispiel, seit 1915 schon, eine jährlich
erscheinende Sammlung der besten amerikanischen Kurzgeschichten (Best
American Short Stories).
Die Short Story stammt aus Amerika. Deshalb verwundert es nicht, dass
wir, die Deutschen, sonst bei Übernahmen vom großen Bruder
weit weniger zimperlich, so lange gezögert haben, dieses Modell zu
übernehmen. Es gibt bei uns keine nennenswerte Tradition der Kurzgeschichte.
Im Gegenteil, eher eine fast unerklärliche Abneigung gegen dieses
Genre, das in die Schulbücher verdrängt und damit zur verhassten
Pflichtlektüre herabgewürdigt wurde. Vielleicht hat sich das
etwas geändert.
Schon die Tatsache von Verena Auffermanns Sammlung spricht dafür.
Mehr noch, was sie da seit dem Jahr 2000 jährlich zusammentragen
konnte. Um Romane schreiben zu können, so zitiert sie den amerikanischen
Großmeister der kleinen Geschichten, Raymond Carver, müsse
man in einer Welt leben, die Sinn macht, einer Welt, an die man
glauben kann. Diese Behauptung, sicher problematisch, verweist jedoch
auf einen Zusammenhang, den man früher, etwas hochtrabend vielleicht,
Funktion der Literatur genannt hatte, also auf Möglichkeiten und
Aufgabe einer solchen Literatur, die Momentaufnahmen ihrer Gegenwart liefert,
kleine Mosaiksteinchen sozusagen, die sich, in einem solchen Zusammenhang
(gar nicht so überraschend) zu einem großen Panorama fügen,
in den Worten der Herausgeberin dieser Besten Deutschen Erzähler
Verena Auffermann, zu einer Totalansicht. Diese Jahrbücher, in denen
auch die Moden, Trends und Tendenzen spiegeln, die großen Aufgeregtheiten
einer kleinen Zeit spiegeln, dokumentieren damit nicht nur ein Stück
Literaturgeschichte, sondern das, was ein Frankfurter Gelehrter einmal
umständlich den Stand der geschichtsphilosophischen Sonnenuhr genannt
hatte. Das ist doch was. (Martin Lüdke)
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