Podium International: Péter Esterházy

„Vater ist ja nur ein Wort“, schrieb vor Jahren Péter Esterházy, „Vater, mein alter ego“. Vater, überall! Und dann stürzte sich der ungarische Schriftsteller in sein Opus Magnum. 900 Seiten – 9 Jahre, eine klare strenge Rechnung. Ein Werk von abendländischem Ausmaß und morgenländischer Pracht entstand: „Harmonia Caelestis“. Eine Famili-engeschichte der ungarischen Esterházy-Dynastie, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vom niederen Adel zum Paladin des Königreichs Ungarn aufstieg. Aber natürlich hat Péter Esterházy keinen historischen Roman mit Jahreszahlen, Schlachtenbeschreibungen und Fideikomissverträgen geschrieben. Sein Werk – wer könnte schlicht „Buch“ zu einem Reiseführer in das Leben so vieler Väter, Mütter, Kinder sagen – ist vieles in einem Buch. Ein Vater-, Mutter- und Geschichtsbuch, denn Esterházy lässt all seine Vorfahren durch die Jahrhunderte als „Vater“ auftreten; die Mütter nennt er sanft säuselnd: „Mamilein“. Er schafft sich Väter, die es als historische Ahnen im historischen Esterházy-Stammbaum gibt, und lässt sich vom Lauf der Geschichte und von seiner eigenen Geschichte nicht stören, denn, so ein typisch kühn philosophischer Esterházy-Satz: „Alles oder nichts laufen auf das gleiche hinaus.“
Die Kommunisten haben versucht, ein „Nichts“ aus den Esterházys zu machen, das „Nichts“ lässt sich ein echter Esterházy nicht gefallen. Ihre Selbstbehauptung enthauptet das Nichts mit der gleichen List, die seine Vorfahren zu dem gemacht haben, was sie geworden sind: Peter Esterházys Bruder Márton wurde im kommunistischen Ungarn Fußball-Nationalspieler, Peter, der älteste, liebte den Fußball auch, trug aber eine Brille, studierte Mathematik, dann wurde er Schriftsteller. Früher zählte man bei den Esterházys die Ländereien in Ungarn und Österreich, jetzt zählt man die Fußballtore und die beschriebenen Seiten. So haben es die Brüder erreicht, ohne Schloss, ohne Land, Schmuck und ohne Titel, ihrem zerstörten (Vater)Land wieder zum Ruhm zu verhelfen und dem Ernst der Geschichte zuzulachen. „Mein Vater schaute auf niemanden herab, das war seine Art, ein Aristokrat zu sein. Großpapa schaute auf alle herab, das war seine. Und ich blinzle nur.“
Der „blinzelnde“ Péter Esterházy erfindet in seinem Familienalbum „Harmonia Caelestis“ soviel, dass man die wahren von den unwahren Begebenheiten auch bei wachstem Verstand schwer trennen kann. Denn Geschichte ist mehr als „gesicherte Fakten“. Geschichte, jedenfalls wie Péter Esterházy sie versteht, ist ein Kontinuum, voller Irrtümer, Witz, Ironie, Zweifel, Zufällen, Erfolgen, Misserfolgen und natürlich Kindern. Für Ungarn und für uns ist Péter Esterházy ein Glücksfall.
So reist man bei dieser genealogischen Rundfahrt, die oft eine Irrfahrt ist und den Leser durch die Jahrhunderte schiebt und zerrt, von dem Zeitalter der Könige ins Zeitalter des Kommunismus, vom Haben ins Nichtshaben, man rutscht den Stammbaum von 1549 zu Nikolaus (Miklós), der 1613 in den Rang eines Barons gehoben und 1626 Graf wurde, zu Paul, der 1687 in den Reichsfürstenstand erhoben wurde, zu Mátyás Esterházy, Péter Esterházys Vater und zu Lili, seiner Mutter und lernt, was bestimmt nicht stimmt, aber vielleicht doch genau so gesagt wurde: „Eure Exzellenz, ich würde es so sagen, bitte schön, die Kommunisten sind hier“.
Der Staatsrechtler Esterházy wird nicht nur enteignet, sondern auch ausgesiedelt. Er wird Straßenarbeiter, Bauer und Spezialist für Melonen („Solche Melonen! Und dann Tag und Nacht allein! Tag und Nacht nur die Partei! ... sowas ist doch nicht okay, Mann!“). Der Kommunismus hat Mátyás Esterházys Leben umgestürzt, nicht aber seine Person.
Péter Esterházy liebt seinen Schalk, und der Schalk ist ein Teil von ihm, neben seiner Frau und seinen vier Kindern und seinem Werk. Péter Esterházy ist ein kommunikativer Mensch, der es sich abgewöhnt hat, mit vielen Menschen zu kommunizieren. Denn er muss in den Text, er muss noch einen Nachtrag zu dem 900-Seiten Buch schreiben, das in Ungarn „Kult“-Charakter besitzt. Die Ungarn lesen voll Staunen das Buch, schauen an den zerfallenen und restaurierten Fassaden ihrer Schlösser, Herrenhäuser und Geschäftshäuser hinauf und fragen sich: „Wie ist es gewesen, wer ist es gewesen, was ist es gewesen“. Péter Esterházy führt in die Welt der skurrilen Herrschaften und in die Welt des sehr realen „Sich-begnügens“. Kurz, Péter Esterházy ist ein Geschichtsfälscher und macht auf verschlungenen Wegen die unerhörte Geschichte nicht nur begreifbar, sondern auch leuchtend sichtbar.
Verena Auffermann

Im Anschluss an Gespräch und Lesung wird in einer Preview der kurze Film gezeigt, den das ZDF in diesen Tagen für seine Sendung „aspekte“ aus Anlass des Erscheinens des neuen Buches von Péter Esterházy in Budapest drehte und der am 7. September gesendet werden wird.

Termin:
So, 26. August 2001, 20.30 Uhr, Markgrafentheater

Eintritt DM 12,–

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