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Literatur aktuell
Die Revue der Neuerscheinungen
Freiheit zum Erzählen
Lesungen und Gespräche mit Peter
Bichsel, Hans Christoph Buch, John von Düffel, Robert Menasse, Norbert
Niemann, Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Eginald Schlattner, Leander
Scholz, Uwe Timm. Moderation: Verena Auffermann, Michael Braun, Sigrid
Löffler, Martin Lüdke, Wilfried F. Schoeller, Hajo Steinert,
Hubert Winkels
- Die Revue der Neuerscheinungen
- Das literarische Debüt
- Die Preisträger des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs
2001
In der deutschsprachigen Literatur des Jahres 2001 ist alles
möglich. Sicher, es gibt Tendenzen und Präferenzen sowohl in
Bezug auf die gewählten Themen und Motive der Autoren, als auch auf
ihre Art zu schreiben. Aber: so vielseitig, so bunt, so fern von jedweder
ästhetischen Norm, gesellschaftlichen Theorie, politischen Couleur,
so weit weg von einem wie auch immer gearteten, nie ganz aus der Mode
kommenden Krisengerede, gestaltete sich das literarische Leben nur selten.
Zwischen der Schweiz im Westen und Rumänien im Osten ist in diesem
Jahr das Feld der deutschsprachigen aktuellen Literatur abgesteckt. Auffallend
dabei, viele der Schriftsteller wenden sich mit Verve der Welt und dem
Politischen wieder zu. Und das Schreiben ist häufig nicht die ausschließliche
Tätigkeit. Manche greifen gern auch ins musikalische oder ins
dramatische Fach.
Pop, Reportage, die persönliche Erinnerung, pure Fantasie, das Spiel
mit Worten, die Lust am Geschichtenerfinden, die Lust auf Liebe und Erotik
all das sind Merkmale einer Literatur, die auch im internationalen
Maßstab zunehmend an Bedeutung gewinnt. Vorbei die Zeiten, da man
sich, um sich bilden und zugleich unterhalten zu lassen, auf die amerikanische
Literatur stürzte. Das literarische Selbstbewusstsein der Deutschen
spiegelt sich in der Produktion der belletristischen Verlage wider. Unterstützt
von einem florierenden Markt literaturzugewandter Medien, von Institutionen
wie Literaturhäusern und von großen Literaturfestivals, können
die Verleger und ihre Lektoren, Literaturagenten wie Literaturkritiker
schier aus dem Vollen schöpfen, wenn es um Entdeckungen geht.
Mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den geschichtlichen Ereignissen
rund um den Mauerfall 1989 geben sich die deutschsprachigen Autorinnen
und Autoren, ganz gleich, ob sie im Westen oder im Osten des Landes aufgewachsen
sind, gelassen im Umgang mit geschichtlich relevanten Themen. Humor, Unterhaltung,
Witz und Ironie Eigenschaften, die in der deutschen Literatur der
jüngeren Vergangenheit nicht unbedingt an der Tagesordnung waren
findet man heute spielend in den Romanen und Erzählungen.
Diese neue Freiheit zum Erzählen setzt allerdings voraus, dass die
jüngste Schriftstellergeneration nur von dem schreibt, was sie selbst
unmittelbar, am eigenen Leibe erlebt hat, aus eigener Anschauung kennt.
Die Gesellschaft nicht verändern, nicht interpretieren, sondern sie
so beschreiben, wie sie ist dieser literarische Ansatz setzt sich
immer mehr durch.
Freie Wahl dem Leser
Mögen die Anhänger einer entschieden sozialkritischen Literatur
das Fehlen großer deutscher Zeitromane und Entwürfe gesellschaftlicher
Utopien auch noch so sehr beklagen für die Autoren selbst
bedeutet die sozusagen von der Zeitgeistindustrie unbehelligte Wahl ihrer
literarischen Inhalte und ästhetischen Theorien so fern diese
überhaupt noch eine Rolle spielen ein gehöriges Maß
an Freiheit. Was für die Autoren gilt, zählt auch für die
Leser auch diese haben, da die Verlage mit gutem Recht auf die
Vielfältigkeit ihrer Programme achten, freie Wahl beim
Kauf der Bücher. Wenn freilich von freier Wahl die Rede
ist, muss man auch von einer Qual der Wahl sprechen.
Spannend und abwechslungsreich ist die Literatur aktuell beim
diesjährigen Poetenfest. Kein repräsentativer Anspruch auf Vollständigkeit
wird erhoben, doch enthält das Programm alles andere als Randerscheinungen
der vorweggenommenen Buchsaison dieses Herbstes.
Zwar ist das Schlagwort vom Fräuleinwunder in der jüngsten
deutschen Literatur mittlerweile zu einem fast schon historischen
Aushängeschild geworden, aber es ist nach wie vor erstaunlich, wie
gerade junge Frauen mit ihren Erzählungen und Romanen auch im Jahr
2001 für Furore sorgen und in den kommenden Wochen noch sorgen werden.
Jenny Erpenbeck, Antje Rávic Strubel und Katrin Askan, die beim
diesjährigen Bachmann-Wettbewerb zweite bis vierte Preisträger
wurden, sind junge Autorinnen, die in der DDR aufgewachsen sind und lange
nach dem Fall der Mauer zu schreiben begonnen haben. Auch wenn sie sich
mit der Vergangenheit eines in ihrer Kindheit und Jugend ertragenen Landes
auf sehr subjektive Weise auseinandersetzen selbstquälerische
Züge wie in den Werken ihrer älteren Kollegen mit meistens peinigenderen
Lebenserfahrungen in der DDR, finden sich in ihren eher literarisch als
biografisch avancierten Geschichten nicht.
Erstaunliche Roman-Debüts liegen in diesem Jahr auf
dem Poetenfest-Büchertisch. Spannend erzählt, voller Bildkraft
und stilistischer Sicherheit, raffiniert bisweilen und vor allem auch
komisch.
Jenseits von historischen Belastungen und geschrieben aus der Erzählperspektive
eines jungen Mannes (!) hat Annette Pehnt aus Freiburg eine Liebes-Wunsch-Geschichte
vorgelegt, die amüsant und intellektuell zugleich daherkommt. Annette
Pehnt mit Ich muß los, aber auch ein Leander Scholz
mit seiner Achtundsechziger-Liebes-und Hassgeschichte Rosenfest,
und ein Norbert Zähringer mit seinem im Ostberliner Eckkneipen-Milieu
spielenden Roman So haben erste Bücher vorgelegt, die
eine außerordentliche literarische Reife zeigen, sodass man sich
über die bereits jetzt erzielten Auflagen ihrer Bücher nicht
wundert.
Zwischen Poesie, Prosa, Drama
und Musik
Gradmesser des literarischen Niveaus der deutschsprachigen Literatur ist
immer noch der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Ende Juni in Klagenfurt. Sehr
klar waren in diesem Jahr auch die Entscheidungen der Klagenfurter Juroren.
Die vier Preisträger überzeugten mit ihren Texten übereinstimmend
auch das Publikum. Zur Tradition des Erlanger Poetenfestes gehört
es, die Sieger im Anschluss an Klagenfurt erstmals einem großen
Live-Publikum vorzustellen, ohne Leistungsdruck, ohne Juroren, ohne die
Hitze der Fernsehkameras. Der Ingeborg-Bachmann Preisträger Michael
Lentz, der mit einem Text über das Sterben der Mutter beeindruckte,
ist auch ein Papst der Lautpoesie und der Beweis dafür,
dass es Wortkunst, Sprachspiel und Experiment in der jüngsten deutschen
Literatur immer noch gibt. Nach dem Tod Ernst Jandls ist die mit Silben
und Syntax spielerisch ins Zeug gehende Literatur keineswegs am Ende.
Dass die Arbeit fürs Theater durchaus von Nutzen für
die Prosa sein kann, erleben wir bei Moritz Rinke. Er geht, wie es sich
für ein auf eine Kunstrichtung nicht festzulegendes Talent gehört,
sehr verspielt, dramaturgisch effektsicher, hoch witzig mit unserer chaotischen
Gegenwart zwischen totaler Sonnenfinsternis und deutschem Mülltrennungssystem
ins Gericht.
John von Düffel, einer der gegenwärtig erfolgreichsten Theaterautoren,
erzählt nach seinem wunderbaren Schwimmer-Roman Vom Wasser
(1998) von einem Fitness-Studio-gestählten Unternehmensberater, dem
alle Muskeln nicht helfen, wenn es um die wirklich existentiellen Fragen
des Lebens geht.
Und dass heute nicht nur in der neuen Weltstadt Berlin, sondern auch in
der heimlichen Hauptstadt München starke, erfinderische,
experimentierfreudige, dem Pop zugeneigte Autoren arbeiten, kann man bei
dem musikalischen Auftritt des Lyrikers und Dramatikers Albert Ostermaier
erleben, und bei der Lesung Norbert Niemanns, der jetzt seinen sehnsüchtig
erwarteten zweiten Roman vorlegt, die unmögliche Liebesgeschichte
Schule der Gewalt.
Der Schweizer Peter Bichsel schließlich, der große Meister
der kleinen Form, der Alltagspoet von traurigem Witz und heiterer Melancholie
gibt sich mit der Sprache allein nicht zufrieden, Stimme und Flöte
sind in dieser Erlanger Deutschland-Premiere zur Sonate verflochten.
Unendliche Geschichten
Literatur aktuell das heißt nicht nur Freude
an der Entdeckung und am Erfolg neuer Autorinnen und Autoren, Lust auf
eine neue Unbekümmertheit im Umgang mit literarischen Stilmitteln,
das heißt nicht nur Konfrontation mit hautnahen Erlebnissen im Hier
und Heute eines unanständigen Wohlfahrtsstaats und Freude an unterhaltsamen,
zeitgemäßen Geschichten ohne theoretischen-ideologischen Unterbau
Literatur aktuell bietet auch die von vielen ersehnten
Wiederbegegnungen mit den Stars der deutschen Literatur, mit Meistern
der Erzählkunst, mit Autoren, die längst prägend für
die deutsche Literaturgeschichte der Gegenwart sind, mit Romanciers, deren
Biografien und Erlebnishorizont weit über den Rand der letzten 20
Jahre hinausgreifen.
Uwe Timm geht in seinem neuen Roman Rot auf eine Zeit zurück,
die ihn schon vor fast dreißig Jahren in seinem Roman Heißer
Sommer bewegt hat: auf die Hoffnungen und Wünsche, die er und
seine Zeitgenossen mit der Achtundsechziger-Revolte verbanden. Auch Robert
Menasse betreibt Vergangenheitserkundung in seinem neuen Roman Die
Vertreibung aus der Hölle. Anlässlich eines Abituriententreffens
werden die Schüler mit der Nazivergangenheit eines ihrer Lehrer konfrontiert.
Doch um die Gegenwart zu analysieren, reist Menasse noch weiter zurück,
bis in das Amsterdam des jüdischen Philosophen Baruch Spinoza.
Nach Kambodscha, Rumänien und anderswohin
Hans Christoph Buch, immer schon einer der wenigen wirklich politisch
motivierten, global denkenden und universal lebenden Autoren deutscher
Sprache, wohl der beste literarische Reporter unserer Zeit, berichtet
in seinem neuen Buch Blut im Schuh aus Ost-Timor, Tschetschenien,
Kambodscha, dem Kosovo und aus Algerien.
Die literarische Begegnung mit uns fremden, nur von den Nachrichten her
bekannten Ländern das ist das Anliegen eines Sherko Fatah,
der in seinem an der türkisch-irakischen Grenze spielenden Debüt-Roman
Im Grenzland Ost und West aufeinander prallen lässt,
wie wir es so noch nie gelesen haben. Der Pfarrer und Schriftsteller Eginald
Schlattner berichtet in dem Roman Rote Handschuhe von seiner
Haft in Rumänien zur Zeit einer maßlosen Diktatur und berichtet
Bewegendes zum Thema Schuld und Sühne.
Literatur aktuell das ist nicht nur eine Weltreise
durch die unterschiedlichsten Gefühls-, Denk- und Erlebnisregionen
in den Schriftsteller-Köpfen. Literatur aktuell beschert
uns Welten, die wir sonst nur vom Hörensagen kennen.
Hajo Steinert/L.P.
Sa/So, 25./26. August 2001,1419
Uhr, Schlossgarten
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