33. Erlanger Poetenfest — 29. August bis 1. September 2013
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Die Revue der Neuerscheinungen I
Lesungen und Gespräche mit Stefanie de Velasco, Gunther Geltinger, Michael Köhlmeier, Jo Lendle, Terézia Mora, Petra Morsbach, Katja Petrowskaja, Steffen Popp, Peter Schneider und Ron Winkler

Träumer und Sünder, Schelme und Dichter

Der große Vorzug der Literatur gegenüber der Wirklichkeit liegt in der Formgebung des Erlebten. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind Formgestalter des Lebens. Mag es auch noch so abenteuerlich, dramatisch und rätselhaft auf den Seiten eines Romans zugehen – nach dem Ende der Lektüre wissen wir mehr über das Leben, sind wir ein Stück weiter in unserem Verlangen gekommen, das Geschehen unmittelbar um uns herum, in fernen Gegenden auf unserer Erde oder die Geheimnisse unter der Schädeldecke zu verstehen. Was uns im wirklichen Leben als Folge voneinander unabhängiger Ereignisse vorkommt, im schlimmsten Falle als ein einziges Durcheinander, wird in der Literatur in Form gebracht. Literatur macht begreifbar, was uns im Leben, gäbe es die Erzähler nicht, unbegreiflich bliebe.
Die „Revue der Neuerscheinungen“ des Erlanger Poetenfests findet an zwei Spätsommertagen statt. Doch die Nachwirkungen halten ein ganzes Jahr an, wenn die erworbenen Bücher ausgelesen sind, Erzählungen und Romane, Reportagen und Gedichte, die im Park noch auf dem Büchertisch lagen und von ihrer weiteren Bedeutung für die Leser noch nichts wussten.
Wir werden Zeugen von Recherchen, wie Autoren, gleich welchen Alters, ihre Familiengeschichte aufarbeiten. Bei Peter Schneider, dem 1940 geborenen, zu Unrecht mit dem Klischee des „Altachtundsechzigers“ belegten Berliner Autor, der uns seit Jahrzehnten mit seiner packenden Prosa und seinen politischen Essays in Atem hält, sind es die Liebesbriefe der Mutter aus der Kriegs- und Nachkriegszeit – lange Zeit ungelesen im Schrank gelegen –, die das Fundament für „Die Lieben meiner Mutter“ bilden (Sa, 17 Uhr). Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, wird mit „Vielleicht Esther“ im Frühjahr 2014 ihr erstes großes Buch in deutscher Sprache vorlegen. Die Handlung entzündet sich an der Erschießung der eigenen jüdischen Großmutter in Kiew. Für einen Auszug aus ihrer ergreifenden Recherche erhielt sie den diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preis (Sa, 14:30 Uhr).
Zu den Autorinnen, die einer großen Lesergemeinde schon seit vielen Jahren bekannt sind, gehören die drei großen „M“ der deutschen Literatur: Monika Maron (So, 16:30 Uhr), Terézia Mora (Sa, 18:30 Uhr) und Petra Morsbach (Sa, 17:30 Uhr). Was diese drei erfahrenen und, jede auf ihre Art, virtuosen Erzählerinnen in ihren Romanen einmal mehr literarisch auf eindrückliche Weise meistern, sind Begegnungen mit starken Figuren, die man nicht vergisst. Das Todeserlebnis ist sowohl in Monika Marons neuem Roman „Zwischenspiel“ als auch in Terézia Moras „Das Ungeheuer“ Anlass für existenzielle Selbstbefragung und persönlichen Aufbruch. In Petra Morsbachs Künstlerroman „Dichterliebe“ ist es ein Schriftsteller, dem durch die neuen deutschen Verhältnisse nach dem Fall der Mauer 1989 der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Gern gesehene Gäste beim Erlanger Poetenfest sind die beiden Österreicher Michael Köhlmeier (Sa, 15 Uhr) und Norbert Gstrein (So, 17 Uhr), weil sie mit neuen Romanen aufwarten, die zum Exzeptionellsten der Gegenwartsliteratur zählen. Mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ hat Michael Köhlmeier einen Schelmenroman geschrieben, der in der Kritik nahezu einhellig als „grandioser Wurf“ aufgenommen wurde. Es ist die Geschichte eines Burschen, 1949 in Budapest geboren, von Stalins Handlangern gefangen genommen, der europaweit eine kriminelle Karriere macht. Eine Bombe wird in Norbert Gstreins neuem Roman gefunden. Er erzählt von einem Lehrer und einem seiner Schüler, der sich politisch auf Abwegen zu befinden scheint. Mehr als eine literarische Nachforschung ist „Eine Ahnung vom Anfang“, ein Roman über die Suche nach Heimat und Exil.
Einen Aufbruch aus dem beschaulichen Osnabrück hat Jo Lendles Hauptfigur Lambert in dem Roman „Was wir Liebe nennen“ hinter sich (Sa, 16 Uhr). In Kanada lernt er eine Tierforscherin kennen. Soll er bei ihr bleiben oder zurück zu seiner auf ihn wartenden Freundin gehen? In Mirko Bonnés Roman „Nie mehr Nacht“ (So, 14:30 Uhr) reist ein gewisser Markus Lee mit einem Jungen in die Normandie. Was als einwöchiger Hotel-Aufenthalt geplant war, entwickelt sich zu einer mehrmonatigen Recherche nach der verlorenen Zeit vor dem Hintergrund der Landung der Alliierten im Sommer 1944. Von einer Kindheitslandschaft ganz anderer Art erzählt Gunther Geltinger in „Moor“ (Sa, 14 Uhr). Es geht um einen dreizehnjährigen Jungen. Er ist der Außenseiter im Dorf, nicht nur wegen seines Sprachfehlers. Wie man das Leben trotz Versehrtheit an Körper und Seele aushält – davon erzählt dieser Autor. Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte bietet Matthias Göritz (So, 16 Uhr). Der Roman „Träumer und Sünder“ handelt von einem Journalisten, der über das Zustandekommen eines (fiktiven) Kriegsfilms berichtet, in dem Nicole Kidman die Hauptrolle spielen soll. Kunst im Spannungsfeld von Geschäft und Wahrheit ist hier das übergeordnete Motiv.
Sehr gespannt sein darf man auch dieses Jahr wieder, wie sich die Debütanten schlagen. Gerade für sie ist die Lesung vor großem Publikum und das Gespräch auf dem Nebenpodium ein Höhepunkt in ihrer jungen Karriere. Stefanie de Velasco erzählt in ihrem Debütroman „Tigermilch“ (Sa, 16:30 Uhr) in hinreißendem Sound, leichtfüßig und schonungslos, wuchtig und zart von zwei Mädchen, die das Leben mit beiden Händen ergreifen. Jonas Lüscher ist vielleicht einer der erfolgreichsten Debütanten seit langem (So, 15 Uhr). In seiner Novelle „Frühling der Barbaren“ erlebt ein junger Fabrikerbe, ausgerechnet bei einem festlichen Anlass in Tunesien, wie Protagonisten der Londoner Finanzwelt nach dem Sturz des britischen Pfund ins Taumeln geraten. Eine bitterböse Satire auf die Globalisierung. Die Sängerin und Texterin einer Italo-Swing-Band, Monika Zeiner, begibt sich in ihrem ersten Roman „Die Ordnung der Sterne über Como“ auf das gefährliche Terrain einer Dreiecksbeziehung im Musiker-Milieu und trifft dabei den Nerv des Lebensgefühls der 90er-Jahre (So, 18 Uhr). Linda Benedikt erzählt von einer Tochter, die ihre Mutter in den Tod begleitet (So, 15:30 Uhr). Das Prosadebüt „Eine kurze Geschichte vom Sterben“ ist ein ergreifender Monolog über das Abschiednehmen und eine schmerzhafte Liebeserklärung zugleich.
Eine junge Frau, die ihr spektakuläres Debüt schon hinter sich hat („Axolotl Roadkill“, 2010) und nun in einem zweiten Roman zeigt, was sie wirklich kann, ist Helene Hegemann (So, 13:30). Das Publikum darf sehr gespannt sein, wie sie in „Jage zwei Tiger“ von einer Welt erzählt, in der individuelle Selbstverwirklichung das oberste Ziel ist, aber Schein und Realität nicht mehr klar zu trennen sind.
Als Königsdisziplin der Literatur wird häufig die Lyrik bezeichnet. Der poetisch Wagemutigste der jungen Berliner Dichter-Szene ist Steffen Popp, ein lyrischer Tonsetzer ästhetischer Widersprüche und Paradoxa. Er spielt wirklich alle Möglichkeiten der poetischen Fantasie durch, sodass aus seinen Gedichten wie aus der legendären Büchse der Pandora alle Wirkungsmöglichkeiten der Sprache auffliegen. In seinem neuen Gedichtband mit dem rätselvollen Titel „Dickicht mit Reden und Augen“ experimentiert Popp mit der ehrwürdigen Form des Sonetts (Sa, 15:30 Uhr). Hendrik Rost liebt die ironische Halbdistanz, den kühlen Blick auf die Dinge, meist durch irgendein Aufzeichnungsmedium gebrochen. In seinem neuen Band „Licht für andere Augen“ fixiert er das ganz Kleine, das Familiäre ebenso wie die großen Zusammenhänge. Die Turbulenzen der Zeitgeschichte, politische Verwerfungen, Klimawandel, aber auch unspektakuläre Alltagsphänomene (So, 14 Uhr).
Die bulgarisch-deutsche Autorin Tzveta Sofronieva hat aus der schwierigen Bewegung des Nomadisierens zwischen den Sprachen poetische Funken geschlagen. Sie schreibt auf Deutsch, Bulgarisch und Englisch, wandert zwischen den Sprachen und ergründet die Fundamente der Wörter. In ihrem neuen Gedichtband „Landschaften, Ufer“ zeigt sie ihr polylinguales Universum, in dem alles immerfort in Bewegung ist (So, 17:30 Uhr). Der Dichter Ron Winkler gilt als neologismenhungriger Sprachraumforscher des 21. Jahrhunderts. Er liebt die exquisiten Fügungen, aus denen wie aus einem Strahlenbündel Bedeutungen nach allen Seiten hervorbrechen. Wie kleine Offenbarungsblitze und verrätselte Evidenzen durchzucken opak funkelnde Substantive seine Gedichte – und in jedem Vers sind sie zum Abweichungs-Sprung bereit. In seinem aktuellen Band „Prachtvolle Mitternacht“ geht Ron Winkler nun aufs Ganze: Er versucht sich als moderner Minnesänger (Sa, 18 Uhr).
Hajo Steinert (Prosa) / Michael Braun (Lyrik)

14:00 Uhr Gunther Geltinger Moor. Roman. Suhrkamp. Berlin, 9. Sep 2013
14:30 Uhr Katja Petrowskaja Vielleicht Esther – Ingeborg Bachmann-Preis 2013 Vielleicht Esther. Roman. Suhrkamp. Berlin, 20. Jan 2014
15:00 Uhr Michael Köhlmeier Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman. Hanser. München, Jan 2013
15:30 Uhr Steffen Popp Dickicht mit Reden und Augen. Gedichte. KOOKbooks. Berlin, Mrz 2013
16:00 Uhr Jo Lendle Was wir Liebe nennen. Roman. DVA. München, 12. Aug 2013
16:30 Uhr Stefanie de Velasco Tigermilch. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln, 15. Aug 2013
17:00 Uhr Peter Schneider Die Lieben meiner Mutter. Kiepenheuer & Witsch. Köln, Mai 2013
17:30 Uhr Petra Morsbach Dichterliebe. Roman. Knaus. München, Mrz 2013
18:00 Uhr Ron Winkler Prachtvolle Mitternacht. Gedichte. Schöffling & Co. Frankfurt am Main, 7. Aug 2013
18:30 Uhr Terézia Mora Das Ungeheuer. Roman. Luchterhand. München, 2. Sep 2013

Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert

Samstag, 31. August, 14:00 bis 19:30 Uhr, Schlossgarten, Hauptpodium
Eintritt frei!

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