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Die Revue der Neuerscheinungen II
Auf den Mond und zurück!
Lesungen und Gespräche mit Nora Gomringer, Michael Kleeberg, Georg Klein, Mariam Kühsel-Hussaini, Rolf Lappert, Adolf Muschg, Christiane Neudecker, Dirk von Petersdorff, Peter Wawerzinek, Judith Zander

Die einen kommen gleich zu Anfang ihrer Karriere darauf zu sprechen, die anderen warten ein ganzes Schriftsteller-Leben lang, ehe sie endlich darüber erzählen. So oder so – es ist ein ewiger Topos in der Literaturgeschichte: die Kindheit, die Jugend. Ob Peter Wawerzinek, Georg Klein oder Thomas Hettche – wenn in ihren neuen Texten von den Eltern bzw. von einem Elternteil allein gelassene oder sich aus dem ganzen Lebens- und Trennungsdurcheinander heraus selbst überlassene junge Menschen die literarische Bühne betreten, ist ihnen unsere Anteilnahme sicher.
Peter Wawerzinek erzählt die traurige, rebellische, unter die Haut gehende Geschichte eines Kindes in nordostdeutscher Provinz, das von seinen Eltern von einem Tag auf den anderen verlassen und in der Folge von einem Waisenhaus in ein anderes geschickt wurde. Es ist Peter Wawerzineks eigene Geschichte, die er in „Rabenliebe“ erzählt. Den „Roman unserer Kindheit“ legte Georg Klein im Frühjahr vor. Darin erzählt er von (s)einer Kindheit an den tristen Rändern einer süddeutschen Stadt – es könnte Augsburg sein. Zum Poetenfest erscheinen neue Erzählungen: „Die Logik der Süße“.
Von einem unerfüllten Kinderwunsch erzählt Michael Kleeberg in seinem packenden, in Paris spielenden Roman „Das amerikanische Hospital“. Von den Folgen einer Trennung der Eltern für ein Einzelkind handelt Thomas Hettches neuer, bisher persönlichster Roman „Die Liebe der Väter“. Annika war zwei, als ihre Eltern auseinandergingen. Jetzt ist sie dreizehn, das Sorgerecht liegt beim Vater, zwischen ihm und der Mutter herrscht indes immer noch Krieg. Wie ein Ehekrieg entstehen kann – davon weiß Arno Geiger zu erzählen. Auf den ersten Blick eine Geschichte, wie sie nur allzu oft auch im wirklichen Leben passiert: Die Frau, Mutter von drei Kindern, beginnt ein Verhältnis mit des Ehemannes bestem Freund. Doch beginnt sie damit auch ein neues Leben? „Alles über Sally“ – ein böser und auch ein von Komik getragener Roman über Liebesverrat und die Folgen. Dagegen zeugt Sabine Peters’ neuer Roman „Feuerfreund“ geradezu von Stille und Wehmut. Der Tod des 33 Jahre älteren Freundes und Lebenspartners gibt Anlass zu Erinnerungen an eine ebenso fragwürdige wie erfüllte Liebe. Wie man Liebe zu einem deutlich älteren Mann auf die egoistischste Weise inszenieren und für seine eigenen beruflichen Machtspiele einsetzen kann – das ist das Thema des neuen Romans von Norbert Gstrein. „Die ganze Wahrheit“ ist nicht zuletzt auch deshalb in aller Munde, weil die Kritik schon vor dem Erscheinen Parallelen zwischen den literarischen Figuren und einer tatsächlich lebenden Verleger-Witwe und einem tatsächlich nicht mehr lebenden Verleger zog. In Thomas Lehrs Roman „September. Fata Morgana“ stehen zwei Väter und zwei Töchter, zwei parallele Lebensgeschichten in den USA und im Irak im Mittelpunkt. Ihre Schauplätze sind weit entfernt, und doch verbinden sie zwei politische Ereignisse: Sabrina stirbt am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center, während Muna 2004 bei einem Bombenattentat in Bagdad ums Leben kommt. Dass sie als Schwestern, so unterschiedlich sie auch sind, aufeinander angewiesen sind, spüren die beiden Hauptfiguren in Rolf Lapperts neuem Roman „Auf den Inseln des letzten Lichts“. Sie haben sich unter spektakulären Umständen aus den Augen verloren und finden sich auf abenteuerliche Weise wieder. Eine unheimliche Geschichte ins aberwitzig Experimentelle und schauerlich Romantische getrieben, erzählt Christiane Neudecker. In „Das siamesische Klavier“ erweist sie sich als junge Meisterin der Short Story. Wer es noch unheimlicher will, sei auf die Lesung des großen Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg verwiesen. Darin spukt es nach Kräften, und wenn es nur um erotische Visionen geht! Wie vielfältig deutsche Autorinnen in der Wahl ihrer Sujets sind, lässt sich vortrefflich an Sabine Küchlers neuer Prosa ablesen. Sie bereichert in „Was ich im Wald in Argentinien sah“ das Genre Reise-Literatur um eine göttliche und waldwärts gerichtete Variante – aber Achtung! Die Ironie der Autorin lässt den Zuhörer bisweilen den Boden unter den Bierbänken im Schlossgarten verlieren! Was auch für Mirko Bonné gilt. Er schickt seinen Höllenhund Zerberus um die ganze Welt. Der „Ausflug mit dem Zerberus“ führt immerhin nach Südamerika und in die Antarktis, auf den Mond und zurück.
Und was bieten die Debütantinnen in diesem Jahr? Judith Zander erzählt großformatig in „Dinge, die wir heute sagten“ von haltlosen Jugendlichen in einem Dorf, Dorothee Elmiger in „Einladung an die Waghalsigen“ virtuos von einer übrig gebliebenen Jugend in einer vom Erdboden verschwindenden Stadt. Und Mariam Kühsel-Hussaini, geboren 1987 in Kabul als Enkelin eines Kalligrafen, aufgewachsen in Deutschland, erzählt mit „grenzenloser Ausdruckskraft“ (Martin Walser) die Geschichte ihrer Familie, deren Wurzeln bis Mohammed zurückreichen. In einer Sprache, die Orient und Okzident zu vereinen scheint.
Ludwig Fels ist es „Egal wo das Ende der Welt liegt“. So heißt sein neuer Lyrikband. Endlich mal wieder einer! Darin Gedichte voller Sanftmut, Trauer, Liebe und Zorn. Keineswegs ruhiger sind die Liebesgedichte von Michael Lentz. „Offene Unruh“ der bezeichnende Titel seines neuen Buchs. Wieder ein Meisterwerk der Gedichtkunst. Selbst wenn die Sonne den ganzen Tag über dem Schlossgarten steht: Wenn Nora Gomringer auf der Bühne sitzt und liest, ist ein Gewitter unvermeidbar. Ein Sprach-Gewitter. Der neue Band der Lyrik-Performerin heißt „Nachrichten aus der Luft“. Von einem vollkommen unverwechselbaren Ton zeugen auch die Gedichte von Dirk von Petersdorff. Kaum ein anderer Lyriker seiner Generation trifft das Lebensgefühl zwischen Melancholie und Gedankenlust so punktgenau wie er: „Nimm den langen Weg nach Haus“ heißt sein neues Buch. – Sich Zeit lassen, sich Zeit nehmen – was für den Lyriker ein philosophischer Rat, ist für das Publikum der „Revue der Neuerscheinungen“ schon ausgemacht, bevor sie den Schlossgarten betreten. Zeit und Muße, offene Ohren und die Lust auf neue deutsche Literatur – von Anfang bis Ende garantiert!
Hajo Steinert

13:30 Uhr Christiane Neudecker
Das siamesische Klavier. Unheimliche Geschichten. Luchterhand. München, Feb 2010
14:00 Uhr Rolf Lappert
Auf den Inseln des letzten Lichts. Roman. Hanser. München, Aug 2010
14:30 Uhr Georg Klein
Roman unserer Kindheit. Roman. Rowohlt. Reinbek, Frühjahr 2010
15:00 Uhr Michael Kleeberg
Das amerikanische Hospital. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt. München, Aug 2010
15:30 Uhr Mariam Kühsel-Hussaini
Gott im Reiskorn. Roman. Berlin University Press. Berlin, Sep 2010
16:00 Uhr Adolf Muschg
Sax. Roman. C. H. Beck. München, Aug 2010
16:30 Uhr Nora Gomringer
Nachrichten aus der Luft. Gedichte. Voland & Quist. Dresden/Leipzig, Aug 2010
17:00 Uhr Peter Wawerzinek
Ingeborg Bachmann-Preis 2010 – Rabenliebe. Roman. Galiani Berlin. Berlin, Aug 2010
17:30 Uhr Judith Zander
Dinge, die wir heute sagten. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag. München, Sep 2010 – 3sat-Preis Klagenfurt 2010
18:00 Uhr Dirk von Petersdorff
Nimm den langen Weg nach Haus. Gedichte. C. H. Beck. München, Aug 2010

Moderation Hauptpodium: Maike Albath

Sonntag, 29. August, 13:30 bis 19:00 Uhr, Schlossgarten, Hauptpodium
Eintritt frei!

 

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