Thomas Hettche

Viele Väter werden sich in diesem Buch mit ihren Gefühlen, ihrer Wut, ihrer Machtlosigkeit wiederfinden, viele Mütter werden sich darüber empören. Es ist bis jetzt in der Literatur nicht oft vorgekommen, dass ein Autor radikal die Position des Wochenend- und Urlaubsvaters beschreibt. Des Vaters, der nichts zu sagen hat, weil die Erziehungsmacht nach der Trennung oder Scheidung bei der Mutter liegt. Thomas Hettche hat mit seinem neuen Roman in ein gesellschaftliches Tabuthema gestochen. Der Stich ist tief und verwundend. Der Verlagsvertreter Peter fährt mit seiner Tochter, der dreizehnjährigen Annika, über Silvester zu Freunden in ein Haus auf Sylt. Sylt kennt Peter sehr genau, als Kind hat er mit seiner Mutter dort viele Sommer verbracht. Raffiniert stellt Thomas Hettche das Verhältnis Peters zu seiner Tochter vor die Kulisse von Peters eigenen Kindheitserinnerungen und in Konkurrenz zu der netten heilen Familie, deren Gast Peter und Annika sind. In einem unbeherrschten Moment, einem emotionalen Kurzschluss, gibt Peter Annika während der Silvesterparty eine deftige Ohrfeige. Diese Ohrfeige ist der Auslöser für Annikas Verschwinden und für Peters Bekenntnis. Die Enttäuschung, die Wut auf Annikas Mutter bricht aus ihm heraus und das Leiden an der eigenen Einsamkeit. Es ist wie ein erlösendes Gewitter oder wie der Sturm, der über Sylt mit erbitterter Schärfe fegt. Der gewiefte Autor, der die Möglichkeiten des Romans in den letzten Jahren nach den Regeln der Kunst ausprobiert hat, zeigt in dieser realistischen und sozialkritischen „Studie“ eine wichtige Seite unserer Patchwork-Gesellschaft, in der es mehr als 1,6 Millionen alleinerziehende Mütter gibt, aber nur wenige alleinerziehende Väter. (V. A.)
Auszeichnungen u. a.: Preis des Jungen Literaturforums Hessen (1986, 1987), Hungertuch-Preis (1987), Preis der Kärntner Industrie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1989), Rauriser Literaturpreis, Robert-Walser-Preis (1990), Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik (1994), Rom-Preis der Villa Massimo (1996), Spycher: Literaturpreis Leuk (2001), Poetik-Dozentur Mainz (2002), Premio Grinzane Cavour, SyltQuelle Inselschreiber (2005).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Ludwig muss sterben“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989
– „Inkubation“, Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „Nox“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Das Sehen gehört zu den glänzenden und farbigen Dingen“, Essay, Droschl, Graz 1997
– „Animationen“, Essay, DuMont, Köln 1999
– „Null. Literatur im Netz“, Hrsg. zus. mit J. Hensel, DuMont, Köln 2000
– „Der Fall Arbogast“, Kriminalroman, DuMont, Köln 2001
– „Stellungen. Vom Anfang und Ende der Pornografie“, Essays, DuMont, Köln 2003
– „Woraus wir gemacht sind“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
– „Fahrtenbuch. 1992–2007”, Essays, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007
– „Die Liebe der Väter“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln, August 2010

Samstag, 28. August, 16:30 Uhr, Schlossgarten


 

Website:
www.hettche.de

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