Michael Lentz

Die literarische Verwandlungsfähigkeit dieses Dichters ist enorm. Die Bühne der Literatur betrat er als Prophet der avancierten Lautpoesie. Mitte der 1980er-Jahre verließ er – das Saxofon unter den Arm geklemmt und die ersten Lautgedichte im Tornister – seine Heimatstadt, das nordrhein-westfälische Düren, und schickte sich an, als spätgeborener Avantgardist (Lentz ist Jahrgang 1964) die literarische Welt zu erobern. Nach einer Zwischenstation in Aachen gelangte der Autor, Musiker und Sprachakt-Performer nach München, wo er in intensiver Zusammenarbeit mit dem Komponisten Josef Anton Riedl zahlreiche Projekte zur experimentellen Musik und Lautpoesie inszenierte. In einer monumentalen Dissertation zur „phonetischen Poesie“ trug Lentz schließlich alles zusammen, was in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 einen Zusammenhang von „Körper und Stimme“ hergestellt hat. 2001 reüssierte er dann auch als Virtuose der Prosa mit seinem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Text „muttersterben“. Kaum hatte man Lentz als autobiografischen Chronisten eines Liebesdesasters kennengelernt – in seinem Roman „Liebeserklärung“ (2003) – wechselte er erneut das Genre: Mit „Pazifik Exil“ (2007) präsentierte der Autor einen dokumentarischen Roman über die Lebensschicksale der deutschen Exilliteratur.
Sein jüngster literarischer Coup gilt nun einem höchst konventionellen Genre – dem Liebesgedicht. Kaum hatte Lentz seine „100 Liebesgedichte“ vorgestellt, schrillten bei den „Experten“ sogleich die Alarmglocken. War da etwa ein Autor der Avantgarde unversehens zu einem Dichter der Gefühligkeit konvertiert? Auf den ersten Blick erscheint der Band „Offene Unruh“ als ein intimes Vademecum, als eine Art Ratgeber in emotionalen Unsicherheitslagen. Doch bereits die strikt numerische Bestimmung „100 Liebesgedichte“ und die Unterteilung in zehn Kapitel mit je zehn Gedichten verweisen auf den streng seriellen Charakter des Werks. Lentz hat 100 Versuchsanordnungen über die Liebe geschrieben, die gerade nicht den klassisch-romantischen Liebesbegriff reproduzieren, sondern ihn überschreiben und überschreiten.
Ein mit allen Wassern der Poetologie gewaschener Autor wie Lentz weiß natürlich, dass das Liebesgedicht zu den schwierigsten Gattungen gehört. Denn es ist ihm ein verführerischer Drang immanent, den Triumph des Herzens über den Kopf zu zelebrieren.
Deshalb zielen Lentz’ Versuchsanordnungen auf das Gegenteil: Mit skeptischen, fatalistisch verdunkelten Reflexionen wird jede Liebesharmonie demontiert. Konsequenterweise hat Lentz in seinen Texten die Verlässlichkeit des Liebesgefühls wie auch des Liebesgedichts grundsätzlich in Frage gestellt: „die liebe kennt keinen fortschritt / alle fehler wiederholen wir / die totenuhr setzt mit uns ein / und aus ...“
Der Zustand der „offenen Unruh“, den der Titel reklamiert, meint nicht nur die vibrierende Unsicherheit eines Liebenden, sondern gilt auch für die Beweglichkeit des Liebesgedichts selbst. Erst wenn die romantische Sprache der Liebe im Gedicht in ihren Fundamenten erschüttert und in den Zustand „offener Unruhe“ versetzt wird, ist sie zu ertragen.
(M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Literatur-Stipendium München (1993), Literaturstipendium des Berliner Senats (LCB), Literaturförderungspreis des Freistaates Bayern (1999), Aufenthaltsstipendium Casa Baldi, Olevano/Rom (2000), Aufenthaltsstipendium Villa Aurora, Kalifornien, Ingeborg-Bachmann-Preis (2001), Hans-Erich-Nossack-Förderpreis (2002), Poetikdozentur Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (2003), Preis der Literaturhäuser (2005).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Neue Anagramme“, ed. selene, Wien 1998
– „Oder. Prosa“, ed. selene, Wien 1998
– „Ende gut. Sprechakte”, mit CD, ed. selene, Wien 2001
– „Es war einmal … Il était une fois …“, Erzählung, ed. selene, Wien 2001
– „Muttersterben“, Prosa, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2002, Audio-CD DHV, München 2002
– „Aller Ding“, Gedichte, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003
– „Liebeserklärung“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003, Audio-CD DHV, München 2003
– „Jahrbuch der Lyrik 2005“, Hrsg. zus. mit C. Buchwald, C. H. Beck, München 2004
– „Pazifik Exil“, Roman, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2007, Audio-CD Patmos, Düsseldorf 2007
– „Offene Unruh. 100 Liebesgedichte“, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010
Musik (Auswahl):
– „Sprechakte X/TREME“, CD, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern 2005
Theater (Auswahl):
– „Gotthelm oder Mythos Claus”, UA Schauspiel Frankfurt a. M. 2007
– „Warum wir also hier sind“, UA Kammerspiele Frankfurt a. M. 2009

Samstag, 28. August, 18:30 Uhr, Schlossgarten


 

Website:
www.michaellentz.com

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