Hans-Ulrich Treichel

Was geschieht mit einem Jungen, dessen Bruder auf der Flucht aus Ostpreußen verloren ging? Das Schicksal des Nachgeborenen, der seine Kindheit an der Seite eines Gespenstes verlebt und durch die lähmende Trauer der Eltern eine zwiespältige Ersatzfunktion auferlegt bekommt, ist allen Treichel-Lesern bekannt. Es ist Gegenstand von Treichels Welterfolg „Der Verlorene“ (1998) – mittlerweile eines der bekanntesten deutschsprachigen Bücher im Ausland. Nach lakonischen Erkundungen der Seelenzustände spätpubertärer Studenten westfälischer Herkunft auf der Suche nach italienischer Leichtigkeit oder glamouröser Berühmtheit in „Tristanakkord“ (2000) und „Der irdische Amor“ (2002) gerät jetzt der erwachsen gewordene jüngere Bruder noch einmal in den Blick. „Menschenflug“ heißt Hans-Ulrich Treichels neuer Roman. Im Mittelpunkt steht ein alter ego des Autors namens Stephan, der ein Buch über das Verschwinden seines älteren Bruders verfasst hat, kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag steht, einer ehrgeizlosen Beschäftigung als akademischer Rat nachgeht, gerade eine einjährige Auszeit von seinem geruhsamen Familiendasein als Ehemann einer Psychoanalytikerin und Ersatzvater zweier Töchter nimmt und sich plötzlich mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit konfrontiert sieht. Das angenehme Gleichmaß ist dahin: Zuerst bereitet ihm sein Herz Schwierigkeiten, dann taucht ein aufdringlicher Leser auf, schließlich kann seine Frau ihn nicht auf eine Urlaubsreise nach Ägypten begleiten, die Stephan reflexhaft zu einer amourösen Eskapade verleitet. Gleichzeitig wird ihm klar, dass er über die Herkunft seiner Eltern kaum etwas weiß. Endgültig umgestülpt wird sein Leben durch eine Fährte, die zu dem verlorenen Bruder führt. Treichel, 1952 in Versmold geboren und Professor am Literaturinstitut Leipzig, liefert das Porträt eines Mannes in mittleren Jahren: mit stiller Ironie, lapidar und schnörkellos. (M.A.)
Auszeichnungen u. a.: Leonce-und-Lena-Preis (1985), Stipendium Villa Massimo, Rom (1988), Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (1993), Poetik-Dozentur Frankfurt a. M. (1999/2000), Margarete-Schrader-Preis für Literatur, Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (2003).

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Ein Restposten Zukunft“, Gedichte, Edition Neue Wege, Berlin 1979 – „Liebe Not“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986 – „Seit Tagen kein Wunder“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1990 – „Der einzige Gast“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1994 – Wolfgang Koeppen: „Einer der schreibt. Gespräche und Interviews“, Hrsg., Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995 – „Heimatkunde oder Alles ist eitel und edel“, Besichtigungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1996, Taschenbuch ebd. 2000 – „Der Verlorene“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998, Taschenbuch ebd. 1999, 2003 und 2005 – „Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000 – „Tristanakkord“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000, Taschenbuch ebd. 2001 und 2004 – „Der Entwurf des Autors. Frankfurter Poetikvorlesungen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000 – „Der irdische Amor“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, Taschenbuch ebd. 2004 – „Gespräch unter Bäumen“, Gesammelte Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002 – „Der Felsen, an dem ich hänge. Essays und andere Texte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005 – „Menschenflug“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005
Libretti (Auswahl): – „Tre Opere per Burratini“, Musik: Hans Werner Henze u. a., UA Montepulciano/Italien 1984, Neufassung unter dem Titel „Knastgesänge. Drei Musiktheaterstücke für Puppenspieler, Sänger und Instrumentalisten. Variationen über vier Lieder von Hans Werner Henze“, Komponiert von Jörg Widmann 1995, UA Theater Basel 1996 – „Das verratene Meer“, Musikdrama, nach dem Roman von Yukio Mishima, Musik von Hans Werner Henze, Schott, New York 1990 – „Venus und Adonis. Oper in einem Akt für Sänger und Tänzer“, Musik von Hans Werner Henze, Schott, Mainz/New York 1995 – „Sinfonie Nr. 9 für gemischten Chor und Orchester. Dichtung auf Anna Seghers Roman ‚Das siebte Kreuz’“, Musik von Hans Werner Henze, UA Berlin 1997


Sonntag, 28. August, 16 Uhr, Schlossgarten und 17.30 Uhr, Orangerie im Schlossgarten