Jürgen Theobaldy

Vor 30 Jahren hat dieser Autor das wohl härteste „Abenteuer mit Dichtung“ unverletzt überstanden. Den vermeintlich toten Klassiker Goethe animierte der junge Wilde Jürgen Theobaldy damals im Eröffnungsgedicht seines Gedichtbandes „Blaue Flecken“ (1974) zu einer halsbrecherischen Auto-Tour, die nach etlichen groben Manövern im Graben endet. Der Wortführer der „neuen Subjektivität“ praktizierte damals nicht nur die Abweichung von der Straßenverkehrsordnung, sondern auch von den Regeln der traditionellen Poetik. Der „Glanz des einfachen direkten Ausdrucks“ und die „Unmittelbarkeit der gesprochenen Sprache“ erschienen ihm wichtiger, als das Regelwerk der poetischen Altvorderen. In den Jahren der Revolte war der 1944 in Straßburg geborene und in Mannheim aufgewachsene Theobaldy Aktivist beim „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS) und verstand seine erzählenden Gedichte zunächst als Möglichkeit, auch die Literatur ins „Handgemenge“ zu führen. Den Ränkespielen des deutschen Literaturbetriebs entzog er sich Mitte der achtziger Jahre durch die Übersiedlung in die Schweiz. Dort reaktivierte er in seinen späteren Büchern jene Formen, die er als lässiger Erlebnisdichter scharf kritisiert hatte: die Odenstrophe Sapphos oder den Elfsilbler Catulls. Zu seinen schönsten Gedichtbüchern zählen die Bände „In den Aufwind“ (1990) und „Immer wieder alles“ (2000), in denen in kleinen Legenden, Märchen und Denkbildern die Geheimnisse der kreatürlichen Welt ergründet werden. Theobaldys Traum- und Symboltiere erscheinen hier als letzte Statthalter der verloren gegangenen Transzendenz, vor allem als Botschafter der Sterblichkeit. An diese Gedichtbücher mit poetischen Miniaturen von sinnlicher Leuchtkraft knüpft auch der jüngste Band „Wilde Nelken“ an, in dem Theobaldy seine Leser mit einer neuen poetischen „Leichtigkeit des Seins“ überrascht. Einige Leser seines Romans „Trilogie der nächsten Ziele“ (2003) wollten den Autor in dem anonymen Amtsschreiber wiedererkennen, der dort im dritten Kapitel seine Weltsicht ausbreitet. Tatsächlich lebt und arbeitet Theobaldy seit vielen Jahren als Protokollant des Bundeshauses in Bern. Mit seiner Romanfigur verbindet ihn die Gewissheit, dass „die Schrift ... das einzig widerstehende Medium gegen den Weltlauf“ darstellt. (M.B.)
Auszeichnungen u. a.: Stipendium Villa Massimo, Rom (1977), Writer in Residence Warwick University, England (1983), Buchpreis des Großen Literaturpreises der Stadt Bern (1992), Nominierung für den Europäischen Literaturpreis (1994), Buchpreis des Kantons Bern (2003).

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Blaue Flecken“, Gedichte, Rowohlt, Reinbek 1974, Buch und Media, München 2000 – „Zweiter Klasse. Gedichte“, Rotbuch, Berlin 1976 – „Sonntags Kino. Roman“, Rotbuch, Berlin 1978, Palmenpresse, Köln 1992 – „Schwere Erde. Rauch“, Gedichte, Rowohlt, Reinbek 1980 – „Spanische Wände“, Roman, Rowohlt, Reinbek 1981, Taschenbuch ebd. 1984 – „Midlands, Drinks. Gedichte“, Wunderhorn, Heidelberg 1984 – „Das Festival im Hof. Sechs Erzählungen“, Rotbuch, Berlin 1985 – „In den Aufwind“, Gedichte, Friedenauer Presse, Berlin 1990 – „In der Ferne zitternde Häuser“, Erzählungen, Wunderhorn, Heidelberg 2000 – „Immer wieder alles“, Gedichte, zu Klampen, Lüneburg 2000 – „Trilogie der nächsten Ziele“, Roman, zu Klampen, Lüneburg 2003 – „Wilde Nelken“, Gedichte, zu Klampen, Lüneburg 2005
Übersetzungen (Auswahl): – Jim Burns: „Fred Engels bei Woolworth“, Gedichte, zus. mit Rolf Eckart John, Rotbuch, Berlin 1977 – Lu Xun: „Kein Ort zum Streiten. Gesammelte Gedichte“, zus. mit Egbert Baqué, Rowohlt, Reinbek 1983


Sonntag, 28. August, 13 Uhr, Schlossgarten