Ursula Krechel

Der Eintritt Ursula Krechels in die Dichtung der Gegenwart beginnt im Frühjahr 1977 mit einem feministischen Befreiungstraum. Im Titelgedicht ihres Debütbuchs „Nach Mainz!“ schickt sie das lyrische Ich an der Seite von Angela Davis und der Jungfrau Maria den Rhein hinauf nach Mainz, zur Demarkationslinie für alle sozialistisch träumenden Weltveränderer. Bei ihrer Suche nach poetischer Selbstvergewisserung ging es der 1947 in Trier geborenen Ursula Krechel zunächst um den Entwurf einer weiblichen Genealogie. „Im Persönlichen war immer das Politische“, schreibt sie im Nachwort zu „Nach Mainz!“, „in der schweifenden Form war eine Festigkeit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.“ Bereits im Band „Verwundbar wie in den besten Zeiten“ (1979) wird dann die kulturrevolutionäre 68er Bewegung mitsamt ihren Idealen verabschiedet: „Aufbruch, Bruch. Abbruch. / Das Wir ist verstört / das Ich längst begraben.“ Den erzählenden Gestus und die autobiographische Verheißung des berühmten Mainz-Gedichts hat sie in ihren späteren Werken immer mehr abgestreift und durch eine komplexere Bildlichkeit ersetzt. Wo die Wörter einst ohne große Sprachskrupel in Dienst genommen wurden, da werden nun den „semantisch ungebundenen Gesellen“ und „lexikalischen Streunern“ immer mehr etymologische Recherchen abverlangt. Ursula Krechel, die begnadete Essayistin, die in ihrem Buch „Lesarten“ (1982) in wunderbar genauen Interpretationen die Poesiegeschichte erforscht hat, zeigt sich in ihren eigenen Gedichten als eine Meisterin in der Handhabung unterschiedlichster poetischer Formen. In den fünf Kapiteln ihres Buches „Landläufiges Wunder“(1995) erprobt sie die gegensätzlichsten Gedichttypen: Lyrische Parabeln, kinderliedhafte Reime, Landschaftsgedichte und ironische Porträts zu den Turbulenzen der jüngsten deutschen Geschichte. Auch in ihrer Prosa konnte Ursula Krechel das konventionell-lineare Erzählen bald nicht mehr genügen: Der Roman „Zweite Natur“ (1981) bot noch episodische Einblicke in eine Frankfurter Wohngemeinschaft, in der Erzählung „Der Übergriff“ (2001) stellt sich ein eher unbestimmtes Ich den Zumutungen einer Stimme, die von psychischer, physischer, sexueller und politischer Gewalt handelt. In ihrem neuen verstörenden Geschichtspoem „Stimmen aus dem harten Kern“ (2005) durchquert sie nun martialische Sprachlandschaften vom Peloponnesischen Krieg bis hin zu den Invasionen des 21. Jahrhunderts. Warum rotten sich Menschen zusammen zu gegenseitiger Vernichtung? Warum wird gekämpft, warum wird getötet? Die „Stimmen aus dem harten Kern“ versuchen eine Antwort. (M.B.)
Auszeichnungen u. a.: Arbeitsstipendium für Berliner Künstler (1980), Stipendium Auswärtige Künstler zu Gast in Hamburg (1982), Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1986, 1992), poet in residence an der Gesamthochschule Essen (1993), Martha-Saalfeld-Förderpreis, Internationaler Eifel-Literatur-Preis (1994), Edenkoben-Stipendium des Landes Rheinland-Pfalz (1995), Elisabeth-Langgässer-Preis, Münchner Jugend-Dramatiker-Preis (1997), Hermann-Hesse-Stipendium der Stadt Calw (2006). Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland.

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Nach Mainz!“, Gedichte, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1977 – „Verwundbar wie in den besten Zeiten“ Gedichte, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1979 – „Zweite Natur. Szenen eines Romans“, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1981 – „Lesarten. Gedichte, Lieder, Balladen“, Hrsg., Luchterhand, Darmstadt u.a. 1982, Neuausgabe „Lesarten. Von der Geburt des Gedichts aus dem Nichts“, Luchterhand, Frankfurt a.M.1991 – „Rohschnitt. Gedicht in sechzig Sequenzen“, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1983 – „Vom Feuer lernen“, Gedichte, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1985 – „Aus der Sonne“, Theaterstück, Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 1985 – „Kakaoblau. Gedichte für Erwachsene“, Residenz, Salzburg 1989 – „Die Freunde des Wetterleuchtens“, Erzählungen, Luchterhand, Frankfurt a. M. 1990 – „Sitzen Bleiben Gehen. Ein Aufbruch in drei Sätzen“, Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 1990 – „Technik des Erwachens. Gedichte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 – „Mit dem Körper des Vaters spielen. Essays“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 – „Sizilianer des Gefühls“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993 – „Landläufiges Wunder. Gedichte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995 – „Ungezürnt. Gedichte, Lichter, Lesezeichen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997 – „Verbeugungen vor der Luft“, Gedichte, Residenz, Salzburg 1999 – „Der Übergriff“, Erzählung, Jung und Jung, Salzburg 2001 – „In Zukunft schreiben. Handbuch für alle die schreiben wollen“, Jung und Jung, Salzburg 2003 – verschiedene Texte und Gedichte im Rahmen der Internet-Plattform www.neuedichte.de, 2004 – „Stimmen aus dem harten Kern. Gedicht“, Jung und Jung, Salzburg 2005
Theater (Auswahl): – „Erika“, UA Landestheater Castrop-Rauxel, Juni 1974 – „Sitzen Bleiben Gehen“, UA Literaturhaus Berlin, August 1988
Hörspiele (Auswahl): – „Erika“, WDR 1975 – „Die Entfernung der Wünsche am hellen Tag“, RB/HR 1977 – „Das Parkett ein spiegelnder See“, BR/WDR 1979 – „Der Kunst in die Arme geworfen”, SFB/BR/WDR 1982 – „Glückselig feindselig vogelfrei“, NDR/SFB 1984 – „Der Keksgigant“, NDR/SFB 1986 – „Stadtluftundliebe“, SWF/NDR 1988 – „Sitzen Bleiben Gehen“, SWF 1990 – „Zwischen den Ohrringen der Redefluss“, SFB/SWF 1991 – „Näher am springenden Punkt“, NDR 1991 – „Bilderbeben”, BR/SR 1991 – „Mein Hallo Dein Ohr”, SWF 1995 – „Im Ohrensaal“, nach Motiven von Unica Zürn, BR 1995 – „Unendliches Türenschlagen“, NDR 1997 – „Shanghai fern von wo”, Hörspiel in zwei Teilen, SWF 1998 – „Liebes Stück“, SWR 2003


Samstag, 27. August, 18.30 Uhr, Schlossgarten