Eva Menasse

Es ist so, als sei man unbeabsichtigt bei einem Familientreffen gelandet: schon auf den ersten Seiten von Eva Menasses Debüt „Vienna“ wird der Leser zum Adoptivkind der Wiener Mischpoke, so unwiderstehlich strömen die Legenden, Anekdoten und Geschichten auf einen ein. Dabei gehört es zum Prinzip des Buchs, das hinter jeder Geschichte noch eine weitere Geschichte steckt oder wenigstens eine Redensart, ein Gesicht, ein sprichwörtlicher Faux-pas, eine altbekannte Macke. Da gibt es zum Beispiel den Vater der Ich-Erzählerin, der beinahe im Kaffeehaus zur Welt gekommen wäre, weil sich seine spielsüchtige Großmutter nicht vom Bridgetisch trennen konnte. Es gibt den nicht minder spielversessenen Großvater, einen Wiener Juden mit Maßhemden und bestechendem Charme, dem die Frauenwelt zu Füßen liegt. Als es unter den Nazis 1940 für die Kinder in Österreich gefährlich wurde, landet das siebenjährige Kaffeehauskind samt älterem Bruder in England. Dieser Mann wird nach seiner Rückkehr ein Star der österreichischen Nationalmannschaft und später ein begnadeter Sportwarenverkäufer, auch er ist vor allem aufs Spiel erpicht. Zu den Mitgliedern des Clans zählen außerdem die dicke Tante Gustl und ihr angeheirateter Bankdirektor, ein Meister der Stilblüte, woran sich die Nachgeborenen noch Jahrzehnte später erfreuen, wenn sie im Chor intonieren: „Dies ist nicht meine Dämone“. Aber wie in jeder geschichtenbegeisterten Familie ist das Reden nur die eine Seite: mindestens ebenso aufschlussreich ist das, worüber nicht gesprochen werden kann. Je weniger der Vater über seine jüdischen Wurzeln nachdenkt, desto stärker fordert sein zorniger Sohn es ein. Je stärker der Vater die frühe Trennung von den Eltern, deren Gesichter er nach kurzer Zeit vergaß, bagatellisiert, desto weiter dringt die Tochter in die Vergangenheit vor und begleitet ihn schließlich auf eine Reise nach England. Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, hat bisher als Journalistin und Verfasserin eines Sachbuchs über den Holocaustleugner David Irving von sich reden gemacht. Mit „Vienna“ gelingt ihr ein beeindruckendes Debüt: eine Vergangenheitsrecherche der besonderen Art mit einer raffinierten Zeitstruktur, eine tragikomische Geschichte mit Wiener Schmäh über die schwergewichtige Frage der Herkunft und ein Familienroman voller Erzähllust. (M.A.)
Auszeichnungen u. a.: Rolf Heyne Debütpreis zur Corine – Internationaler Buchpreis (2005).

Veröffentlichungen (Auswahl): – „Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving“, Siedler, Berlin 2000 – „Vienna“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005


Samstag, 27. August, 14.30 Uhr, Schlossgarten und Sonntag, 28. August, 17.30 Uhr, Orangerie im Schlossgarten