Thommie Bayer


   

Am Anfang war der Voyeur. Er richtet sein gefräßiges Auge, das bewaffnet ist mit Ferngläsern, Teleobjektiven oder Webcams, in fremde Schlaf- und Wohnzimmer, um seine unstillbare Schaulust immer neu anzufachen. So blickt z.B. der an den Rollstuhl gefesselte Fotoreporter aus Hitchcocks Filmklassiker „Das Fenster zum Hof“ in die Wohnung seiner plötzlich verschwundenen Nachbarin, und entdeckt dort nur noch den Ehemann der Verschwundenen, der sich auf verdächtige Weise an Koffern und Messern zu schaffen macht. Auch Thommie Bayer hat in seinem jüngsten Roman „Das Aquarium“ das Fenster zum Hof als einen Ort erregender Schaulust entdeckt und einen hoch spannenden Erotikthriller geschrieben, der sich mit Hitchcocks voyeuristischen Obsessionen durchaus messen kann. Wie alle Bücher des 1953 geborenen Thommie Bayer hat auch „Das Aquarium“ einige unschätzbare Vorteile: Es ist ein überaus lesbarer Roman, leicht und flüssig geschrieben, mit einem ausgeprägten Sinn für Handlungsdynamik und Spannungsaufbau. Der Tontechniker Barry, ein durchaus sympathischer und etwas sentimentaler Romanheld, führt nach einem schweren Unfall ein Eremitendasein in seinem Appartement. Als er eines Tages im Dachgeschoss des gegenüberliegenden Hauses eine geheimnisvolle Frau entdeckt, die im Rollstuhl sitzt, gibt er sich alsbald den Wonnen fürsorglicher voyeuristischer Belagerung hin. Ausgestattet mit diversen technischen Medien, verfolgt er das reichlich lüsterne Treiben der gelähmten Frau und bald entwickelt sich zwischen beiden ein fulminanter Austausch erotischer Größenphantasien. Aus der Urszene der Schaulust entwickelt sich bald eine tempogeladene Geschichte des sexuellen Begehrens, ein sich zu immer neuen visuellen und sprachlichen Exhibitionismen vorantreibender Roman, der auch das riskante Spiel mit den Elementen von Kolportage und Pornografie nicht scheut. Das künstlerische Multitalent Thommie Bayer, erfolgreich nicht nur als Verfasser von Prosa, sondern auch als Drehbuchautor, Kabarettist, Musiker und Maler, erweist sich in seinem achten Roman wieder einmal als kundiger Experte für das gefährliche Terrain der Liebe, das im „Aquarium“ vermintes Gelände ist, ein Ort für sexuelle Grenzüberschreitungen. Insofern hat sich die literarische Konstellation aus früheren Bayer-Romanen etwas verschoben. Denn in seinen ersten Büchern variierte Bayer ein literarisches Erfolgsmodell, das, wie einer seiner Laudatoren schrieb, einem Grundmuster folgte: „Da liebt ein schüchterner Mann eine schöne Frau und kriegt sie am Ende auch.“ Bayers neue Liebesakteure haben sich aus ihrer Schüchternheit befreit und entfesseln ein gefährliches Spiel von sexueller Aggression, Entgrenzung und Selbstaufgabe. Bis zum überraschenden Happy End. Das hier natürlich nicht verraten wird. (M.B.)

 

 

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Eine Überdosis Liebe“, Roman, Rowohlt, Reinbek 1985
– „Einsam, zweisam, dreisam“, Roman, Rowohlt, Reinbek 1987
– „Die frohe Botschaft abgestaubt“, Prosa, Nacherzählung des Evangeliums, Haffmanns, Zürich 1989, Taschenbuch Heyne, München 1993
– „Sellavie ist kein Gemüse“, mit Zeichnungen von Volker Krügel, Beltz, Weinheim/Basel 1990
– „Das Herz ist eine miese Gegend“, Roman, Rowohlt, Reinbek 1991
– „Es ist nicht alles Kunst, was glänzt...“, ein Künstler-Erkennungsbuch, Beltz, Weinheim/Basel 1991
– „Spatz in der Hand“, Roman, Eichborn, Frankfurt a.M. 1992
– „Sponto, Carla, Mike und Bobby McGee“, Pendragon, Bielefeld 1992
– „Der Himmel fängt über dem Boden an“, Roman, Eichborn, Frankfurt a.M. 1994
– „Der neue Mann und das Meer“, Prosa, Goldmann Taschenbuch, München 1995
– „Irgendwie das Meer“, Gedichte, Eichborn, Frankfurt a.M. 1995
– „Der langsame Tanz“, Roman, Eichborn, Frankfurt a.M. 1998
– „Andrea und Marie“, Roman, Goldmann, München 2001
– „Das Aquarium“, Roman, Eichborn, Frankfurt a.M. 2002
Film und Fernsehen:
– „Tatort – Brandwunden“, ARD 1998
– „Andrea und Marie“, Drehbuch, ZDF 1998
– „Wenn man sich traut“, ZDF 1998
Hörbuch:
– „Andrea und Marie“, 3 CDs, Audiobuch, Freiburg 2001
– „Das Aquarium“, 2 CDs, Eichborn, Frankfurt a.M. 2002

Termin:
– Samstag, 31. August 2002, 14.00, Schlossgarten

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