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Bei langweiligen Podiumsdiskussionen zur experimentellen Literatur
kann es passieren, dass er plötzlich auf einen Tisch klettert und
mit seiner markanten Stimme aus dem Stegreif ein Lautgedicht rezitiert.
Die impulsive Performance, das konkret-physische Erproben aller menschlichen
Artikulationsmöglichkeiten, hat der aktuelle Bachmannpreisträger
Michael Lentz zu seiner Profession gemacht. So liebt er es, sich auf der
Lesebühne körperlich restlos zu verausgaben, indem er seine
Poeme immer rasanter artikuliert, bis der gesprochene Text außer
Kontrolle gerät. Ich bin der Hardcore-Realist unter den Lautpoeten,
hat Lentz einmal dieses Sprechakt-Verfahren beschrieben. Mitte der achtziger
Jahre verließ er - das Saxophon unter den Arm geklemmt und die ersten
Gedichte im Tornister - seine Heimatstadt, das nordrhein-westfälische
Düren, und schickte sich an, als spätgeborener Avantgardist
(Lentz ist Jahrgang 1964) die literarische Welt zu erobern. Nach einer
Zwischenstation in Aachen machte der Autor, Musiker und Sprechakt-Performer
1987 München zu seiner Wahlheimat. Hier kommt es zur Zusammenarbeit
mit dem Komponisten Josef Anton Riedl, eine künstlerische Kollaboration,
die seit 1989 zahlreiche Projekte zur Lautpoesie und experimentellen Musik
hervorgebracht hat.
In zwei Jahrzehnten penibler Sammelarbeit hat sich Lentz auch zum Archäologen
der phonetischen Poesie (Franz Mon) entwickelt. Davon legt
seine monumentale Dissertation Zeugnis ab. Auf über tausend Seiten
hat Lentz hier alles zusammengetragen, was in der deutschsprachigen Literatur
nach 1945 einen Zusammenhang von Körper und Stimme hergestellt
hat.
In seinem in Klagenfurt preisgekrönten Text muttersterben
versucht Lentz autobiografischer Ich-Erzähler das qualvolle
Sterben seiner Mutter in Worte zu fassen. Anfangs in einem extrem sachlichen
Behörden-Stil, später zunehmend emphatisch, etwa in einem Wutausbruch
des Erzählers, der seiner Heimatstadt Düren gilt. Als Prosaist
ist Lentz hier ein Übertreibungskünstler in der Nachfolge Thomas
Bernhards, wenn sich seine Heimatbeschimpfung zur Tirade steigert. Parallel
zu den fortschreitenden Sprachwucherungen des Ich-Erzählers wird
der Kommunikationsverlust der Mutter abgebildet, der in unterkühlt
vorgebrachten Sätzen geschildert wird.
Wir leben, so zitiert Lentz seinen Dada-Ahnherrn Kurt Schwitters,
25 Minuten zu spät, und zwar von rechts gesehen. Michael
Lentz virtuose Wortkaskaden holen diesen Zeitverlust wieder ein
und kommen aus allen Richtungen auf uns zu. (M.B.)
Michael Lentz ist Kurator der seit Januar 1996 bestehenden Veranstaltungsreihe
Soundbox. Akustische Kunst in Salzburg und München (Marstall-Theater,
Goethe-Forum, Black Box): akustische Literatur, Lautpoesie, Lautmusik,
improvisierte Musik und Experimentalfilme.
Er hat eine Vielzahl von Veranstaltungen, Lesungen und Konzerten durchgeführt,
u.a. mit Zoro Babel, Peter Brötzmann, Uwe Dick, Paul Dutton, Eugen
Gomringer, Thomas Kapielski, Franz Mon, Oskar Pastior und Gerhard Rühm.
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Veröffentlichungen (Auswahl):
Neue Anagramme, edition selene, Wien 1998
Oder. Prosa, edition selene, Wien 1998.
Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische
Bestandsaufnahme, 2 Bände, edition selene, Wien 2000
Es war einmal. Il était une fois, Erzählung,
edition selene, Wien, Juni 2001
Lettrismus, edition selene, Wien, Frühjahr 2002
Zungendresche. Sprechakte (Buch mit CD), edition selene,
Wien, Sommer 2002
Akustische Kunst:
Absprache. 5 Sprechakte, Hörspiel, B2, 04.10.1995
Musiksprechen. Die Akustischen Lautgedichte des
Komponisten Josef Anton Riedl, DLR Berlin, 22.07.1997
VerbiVisiVocals. Bob Cobbings concrete sound performance,
B2, Forum Musik, 10.11.1997
Ich bin ein Futurist, der Futurist geblieben ist. Die
Verbophonien des Lautmusikers Arthur Pétronio, B2, Forum
Musik, 03.08.1998
Das war für sie der schlimmste Traum, in: Klagenfurter
Texte. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 98, Piper, München
1998
Galerie der Lautpoeten: François Dufrêne
Henri Chopin Josef Anton Riedl Gerhard Rühm
Franz Mon Bob Cobbing, Wo fängt die Musik an?
Michael Lentz im Gespräch mit Jaap Blonk, mit CD, in: Neue
Zeitschrift für Musik, Schott, Mainz 1998
zum beispiel über das abhanden kommen, in: Jahrbuch
der Lyrik 2000, Buchwald, Christoph/ Schrott, Raoul, Hrsg., C.H.
Beck, München 1999
Lautpoesie der Reduktion. Wechselseitige Bedingtheiten von
Stimme und Schrift in Gerhard Rühms auditiver poesie,
in: Dossier 15: Gerhard Rühm, Droschl, Graz 1999
Sonosoph & Co. Zur Klangästhetik der Schwedischen
Text-Sound-Komponisten, B2, Forum Musik, 17. Januar 2000
Soundbox. Akustische Kunst, zusammen mit Rudolf Frisius,
B2, Forum Musik, 29. Juli 2000
ende gut, frage. sprechakt, in: Simulationen
von Kollektiven
adaptiv Handelnder, Galerie der Künstler, München 2000
und in Poetry Slam. Was die Mikrophone halten. Poesie für das
neue Jahrtausend, Ariel, München 2000
wie es früher war, in: Nacht der Poesie:
Die Stimme kommt zum Text. Lyrik aus dem Zollernhof, ZDF, Berlin,
21. März 2001
Il était une fois. Der Lettrist Isidore Isou,
in: ndl 3/01, Aufbau, Berlin 2001
Musiksprechen. Die andere Tradition. Eine Geschichte der
Lautpoesie in zwei Kapiteln, SWR, 2., 14. und 21. Mai 2001
Sprechakte (Auswahl):
jedoch immerhin, für 1 Sprecher CD und live, 1
Schlagzeuger, 3 Papierwerfer, 1998
wechsel: ein wehen für Sprecher CD und live, Uhrgeräusche
CD, 2000
so zu sagen. prosasprechakt für dieter schnebel
für 1 Sprecher CD und live, Uhrgeräusche CD und live, 2 live
bediente Kassettenspielgeräte mit Pitch-Control, 2000
arance dal marocco, Text-Sound Composition für
4 akustische und 5 elektrische Gitarren, Sampler, Talkbox, Sprechen live
und CD, CD-Einspielung, 2001, zusammen mit Zoro Babel
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