37. Erlanger Poetenfest — 24. bis 27. August 2017
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Autorenporträt: Ingo Schulze
Lesung und Gespräch mit Wilfried F. Schoeller

Vom Glück des Lesers als Erfinder

Man kann mit Ingo Schulzes Lebensdaten nicht sehr viel behaupten, aber etwas von einem Orchideendasein ist an ihm unverkennbar. Er wurde 1962 in Dresden geboren, studierte bis 1988 Klassische Philologie, arbeitete zwei Jahre lang als Dramaturg am Landestheater in Altenburg, aber es trieb ihn zum Journalismus. Er begründete 1990 eine Regionalzeitung mit, betreute ein Annoncenblatt, betrieb zeitweilig ein solches Unternehmen auch in Russland. Seit Mitte der neunziger Jahre lebt er mit seiner Familie in Berlin als freier Schriftsteller.
Ingo Schulze gehört also zu den vielen, die in der Nachwendezeit ihre eigene Stimme der Erinnerung, der Einrede, des Protests und der Selbstbehauptung unter den neuen Verhältnissen finden mussten. Aber er verfügt in literarischer Hinsicht über eine der bedeutendsten Stimmen: Nichts von DDR-Nostalgie hat sich jemals in seine Texte geschlichen, Sentimentalität und Selbstmitleid sind ihm fremd. Er schreibt mit kühlem Blick und einem ausgeprägten Sinn für Absurditäten, das Vergangene ist ihm vor allem Stoff für Geschichten. Von seinem Erstling „33 Augenblicke des Glücks“ bis zu seinem demnächst erscheinenden neuen Roman spannt sich eine Kette von Motiven des Schreibens über sein erzählerisches Werk. Berichtet wird vorwiegend von einfachen Leuten mit ihren bestechend genau beschriebenen Lebensgeschichten, aber auch der Erzähler selbst und sogar der Leser mischen sich ein. Der Erzähler ist in diesen Storys ungewöhnlich präsent, ergreift das Wort; der Urheber wird zum Geschöpf im Roman. Seine geheime Sehnsucht aber geht weiter: dass sich die Bilder selbst erzählen könnten. Seine Leipziger Poetik-Vorlesungen hat Schulze mit der Behauptung überschrieben: „Tausend Geschichten sind nicht genug.“ Sein Lesehunger verführt ihn zu der waghalsigen Vermutung, dass der Leser in ihm die Bücher schreibe, dass seine Erfahrungskunde mit der Überschreibung fremder Texte durch den eigenen (und umgekehrt) zu tun haben könnte.
Ingo Schulzes Meisterschaft besteht darin, scheinbar einfache Menschen aus angeblich übersichtlichen Verhältnissen mit der Kraft zur Abweichung zu mustern, sie in unterschiedlicher Manier zu beschreiben, sie dieser diskreten Kunst der Verwandlung auszusetzen, so dass jeder auch seinen eigenen Sonderweg geht. Ähnlich präsentiert sich Ingo Schulze auch persönlich: Jedes Gespräch mit ihm ist eines über Politik, über des Kaisers märchenhafte neue Kleider, das Format des so schwierigen einfachen Lebens, über die Klugheit, die man braucht, es zu bestehen.
Ingo Schulzes neuer Roman „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“, wird wohl eines der Hauptereignisse dieses literarischen Bücherherbsts sein. Er schickt einen Simplicius durch Ost und West, durch Romane von Grimmelshausen bis Günter Grass, durch jäh sich wandelnde Zeiten, durch die Ideologien. Das Erlanger Poetenfest wird eine spannende Buchpremiere erleben.
Wilfried F. Schoeller

aktuell: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., 7. Sep 2017

Freitag, 25. August, 20:30 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,– / erm 3,50 bis 10,– / erm. 8,50 Euro

« zurück