35. Erlanger Poetenfest — 27. bis 30. August 2015
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Die Revue der Neuerscheinungen I
Lesungen und Gespräche mit Christiane Neudecker, Verena Lueken, Ursula März, Robert Schindel, Matthias Nawrath, Dana Grigorcea, Oskar Roehler, Anne Weber, Ralph Dutli und Raoul Schrott.

14:00 Uhr Christiane Neudecker
Sommernovelle. Luchterhand. München, Mai 2015

14:30 Uhr Verena Lueken
Alles zählt. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln, 17. Aug 2015

15:00 Uhr Ursula März
Für eine Nacht oder fürs ganze Leben. Fünf Dates. Hanser. München, Jul 2015

15:30 Uhr Robert Schindel
Scharlachnatter. Gedichte. Suhrkamp. Berlin, 8. Aug 2015

16:00 Uhr Matthias Nawrat
Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman. Rowohlt. Reinbek, 28. Aug 2015

16:30 Uhr Dana Grigorcea
Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Roman. Dörlemann. Zürich, 29. Jul 2015 – 3sat-Preis 2015 (39. Tage der deutschsprachigen Literatur Klagenfurt 2015)

17:00 Uhr Oskar Roehler
Mein Leben als Affenarsch. Roman. Ullstein. Berlin, Mrz 2015

17:30 Uhr Anne Weber
Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch. S. Fischer. Frankfurt am Main, Feb 2015

18:00 Uhr Ralph Dutli
Die Liebenden von Mantua. Roman. Wallstein. Göttingen, 3. Aug 2015

18:30 Uhr Raoul Schrott
Die Kunst an nichts zu glauben. Gedichte. Hanser. München, 28. Sep 2015

Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert

Hauptpodium Schlossgarten:
FM-Anlage für Schwerhörige – Ausleihe an der Information
Hauptpodium Redoutensaal (bei Regen):
Induktionsschleife für Schwerhörige

Spurensuche und Liebesdrang

„Ist das Mikro an? Test, Test. Ist das Mikro an? Ok, also ich hoffe, so geht’s.“ – Und wie das geht! Zu Be­schwerden über das Mikrofon der Erlanger Lesebühne gab es in der Vergangenheit kaum Anlass. „Ist das Mikro an?“ – mit dieser durchaus existenzialistischen Frage beginnt Nora Gomringers Text „Recherche“, für den sie im Juli in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis bekam. „Ja, das Mikro ist an, Nora Gomringer!“ – Wenn sie mit ihrer kräftigen Stimme liest, reagiert nicht nur das Mikrofon sensibel. Auch das Publikum. Denn die Geschichte über einen Jungen, der vom Balkon in den Tod gestürzt ist, zeugt von einer Präsenz, die Ohr und Seele stark berührt (So, 16:30 Uhr).

Die Schweizerin Nora Gomringer ist nicht die einzige Autorin, die beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet wurde und sich nun dem Erlanger Publikum vorstellt. Die Österreicherin Valerie Fritsch erhielt für ihren Text „Das Bein“ den Kelag- und den Publikumspreis. „Winters Garten“, so heißt ihr Roman und ein Sehnsuchtsort, an den ein Vogelzüchter mit seiner Frau nach Jahren des Lärms und des Chaos in der Stadt zurückkehrt (So, 16 Uhr – entfällt leider krankheitsbedingt). Und die in Rumänien geborene, heute in Zürich lebende Schriftstellerin Dana Grigorcea lässt in ihrem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ mit lustvoll überschäumender, ebenso von Melancholie wie Komik getragener Erzählkunst, ihre Heldin zurück in das Bukarest ihrer Kindheit reisen. Dafür wurde sie in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet (Sa, 16:30 Uhr).

Nora Gomringer, Valerie Fritsch und Dana Grigorcea sind drei Autorinnen, die beim diesjährigen Poetenfest für einen Trend stehen. Man muss ja nicht gleich von einem neuen „Fräuleinwunder“ sprechen, wie es schon einmal vor 16 Jahren vom Feuilleton verkündet wurde. Aber es ist auffällig, wie viele junge, vielversprechende Erzählerinnen in der laufenden Saison mit überzeugenden Neuerscheinungen aufwarten. Bücher, die auch ein junges Publikum ansprechen. Christiane Neudecker mit ihrer „Sommernovelle“ ist geradezu ein Hit auf dem aktuellen Buchmarkt. Es handelt sich dabei um eine Coming-of-Age-Geschichte, die auf Sylt spielt, nicht heute, vielmehr im historischen Jahr 1989. Die Hauptfiguren, zwei Mädchen, sind 15 Jahre alt. Es sind auch Geschichten von ersten Lieben (Sa, 14 Uhr). Auf der Suche nach historischer Wahrheit und Liebe befindet sich der durch Berlin irrende Held in „Legenden“, einem Roman der aus Bremerhaven stammenden Gesa Olkusz. Der Großvater des Helden soll ein Widerstandskämpfer in den Wäldern Osteuropas gewesen sein – um ihn ranken sie sich, die titelgebenden „Legenden“. Oder sind es Lügen? (So, 13:30 Uhr)

Auch Nora Bossong, die als fiktive Hauptfigur übrigens in Nora Gomringers Text „Recherche“ vorkommt, geht in ihrem neuen Roman „36,9°“ zurück in die Geschichte des Widerstands: Anton Stöver bekämpft seine Ehekrise, indem er sich mit der Leidenschaft eines Forschers in das Leben einer prägenden Gestalt des italienischen Kommunismus vergräbt: Antonio Gramsci. Dabei interessiert ihn vor allem, wie ein historischer Auftrag aufgrund der Leidenschaft für eine angebetete Frau in Gefahr gerät (So, 18 Uhr). Historische Spurensuche und autobiografisch inspirierte Entdeckungsreise, ausgehend von der Korrespondenz eines Pfarrers mit Geistesgrößen wie Hugo von Hofmannsthal, miteinander zu verschmelzen, das gelingt Anne Weber in ihrem „Zeitreisetagebuch“ mit dem Titel „Ahnen“. Als „familiengeschichtliche Seelen-Erkundung“ wurde das Buch in der Literaturkritik gefeiert (Sa, 17:30 Uhr).

Mit ihren hervorragenden literarischen Erfahrungen als Publizistinnen treten Ursula März und Verena Lueken seit Jahrzehnten hervor. Umso gespannter darf man sein, wie sie jetzt den Tonfall fiktiver Prosa treffen. Um es gleich vorweg zu sagen: bravourös! Ursula März erzählt von „Fünf Dates“, so der Untertitel ihrer Erzählungen: „Für eine Nacht oder fürs ganze Leben“. Sie berichtet über die Irrungen und Wirrungen, die entstehen, wenn liebes- und bindungswillige Frauen und Männer ihr Glück via Internet, Kontaktbörsen, Singlepartys und Seitensprung-Agenturen suchen (Sa, 15 Uhr). Und Verena Lueken schreibt über eine Frau mit schlimmer Diagnose: Lungenkrebs. Was folgt sind Klinikaufenthalt, Operation, Therapien, der Kampf gegen den Tod. „Alles zählt“ ist aber auch ein Roman über die Kraft der Literatur und des Kinos, am Ende auch der Liebe, die der Protagonistin des Romans eine Zukunft gibt (Sa, 14:30 Uhr).

Was in den vergangenen Jahren vielleicht etwas zu kurz kam, waren Einladungen an Autoren aus der Schweiz. In diesem Jahr ist das anders. Mit Alain Claude Sulzer und Ralph Dutli treten zwei Meister ihres Fachs auf. Sulzer hat für seinen Roman „Postskriptum“ einen homosexuellen jüdischen Filmstar der 30er-Jahre erfunden, durch dessen Biografie allerdings phänotypisch die Risse des Jahrhunderts gehen. Lionel Kupfer, so der Name dieser schillernden Figur, geht am Ende ins Exil nach New York. Innerhalb einer Zeitspanne von 50 Jahren erleben wir dramatische Szenen unglücklicher Liebesverhältnisse (So, 17:30 Uhr). Ralph Dutlis Roman heißt „Die Liebenden von Mantua“. Ein Roman über „die Erdbebenzonen des Lebens, über eine neue Liebesutopie, über Religion und Renaissance, den unsicheren Status der Wirklichkeit und die unheimliche Macht der Schrift“, ausgehend vom Fund zweier Skelette, die sich seit 6.000 Jahren in den Armen liegen (Sa, 18 Uhr).

Einer der herausragenden deutschen Schriftsteller ist zweifellos Ulrich Peltzer. Er gehört zu den wenigen, auf deren Werk die Bezeichnung „Globalroman“ zutreffen könnte. In „Das bessere Leben“ erzählt er von weltumfassenden Geschäften zwischen China, Südamerika und Italien aus der Sicht eines Sales-Managers. Jochen Brockmann gerät in teuflische Machenschaften, das Leben gerät zum Absturz in ungeahnte Tiefen. Ein gesellschafts-kritischer Roman mit Zügen eines waschechten Thrillers (So, 15:30 Uhr). Eine traurig-komische Familiengeschichte, einen Schelmenroman geradezu, legt pünktlich zum Poetenfest der in Polen geborene und in Bamberg aufgewachsene Schriftsteller Matthias Nawrat vor. Schauplätze des Geschehens in „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ sind gottverlassene Orte in der polnischen Provinz. Doch auch hier kann man dem herrschenden Totalitarismus im Europa des 20. Jahrhunderts kaum entgehen, so fantasiereich man sich auch dagegen stemmt (Sa, 16 Uhr).

Einen „Trip“, wie der Autor selbst im Untertitel seines Romans sagt, unternimmt Henning Ahrens in „Glantz und Gloria“. Auch hier geht es um eine historische Spurensuche, eine Rückkehr in den Ort der Kindheit, „Glantz“ eben. Eine Heimat, in der es aus Sicht eines gewissen Rock Oldekop immer noch barbarisch zugeht (So, 14 Uhr). Eine radikal fantastische Suche nach seiner eigenen Identität, die auf gewisse Weise auch der renommierte Filmemacher mit fränkischen Wurzeln Oskar Roehler in seinem wilden, nachgerade monomanischen Roman über den Berliner Untergrund „Mein Leben als Affenarsch“ unternimmt. Zeit des Geschehens: die 80er-Jahre, als Berlin noch Frontstadt war, zwischen Paranoia und Stillstand. Der Geruch nach Kohle – und alten Nazis – weht durch die Hinterhöfe. Robert schnallt sich einen Tornister auf und widersetzt sich dem Mief (Sa, 17 Uhr). Auch Ludwig Fels hat fränkische Wurzeln. In seinem historischen Roman „Die Hottentottenwerft“ beschäftigt er sich mit einem finsteren Kapitel deutscher Kolonial-geschichte: Vor genau hundert Jahren, im Sommer 1915, ging die deutsche Kolonial-herrschaft im heutigen Namibia zu Ende. Fast ist es in Vergessenheit geraten, dass Deutschland im ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika für den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert verantwortlich ist. Die kaiserlichen Truppen ermordeten fast 100.000 aufständische Herero und Nama (So, 14:30 Uhr).

„Die lyrische Poesie“, so schrieb einst Friedrich Hebbel, „soll das Menschenherz seiner schönsten, edelsten und erhebendsten Gefühle teilhaftig machen.“ Damit kann die Dichterin Carolin Callies nicht dienen. In ihrem Gedichtband „fünf sinne & nur ein besteckkasten“ geht es eher schmutzig, schmerzhaft und schockierend zu, hier schaut jemand auf eine versehrte Körperlichkeit, auf den malträtierten Leib (So, 15 Uhr). Man muss sich den österreichischen Dichter Robert Schindel als eine Mischung aus modernem Troubadour, politischem Ketzer und Wiener Melancholiker vorstellen. Mit seinem Lyrikband „Scharlachnatter“ kehrt er in die „Herzzone“ seiner Sprachkunst zurück. Hier vermischen sich wieder Liebesgedichte mit Existenz-Gedichten, stürmischer Lebenshunger mit schwärzestem Endlichkeitsgefühl (Sa, 15:30 Uhr). Dichtung, die ihren Namen verdient, ist Lichtschöpfung und Existenzerhellung – auch wenn sie in ihren Wortverknüpfungen zunächst dunkel bleibt. Es ist viel Licht in den Gedichten von Volker Sielaff. In seinem neuen Buch „Glossar des Prinzen“ demonstriert er seine Lust an poetischer Verwandlung und an der Neuerfindung seiner selbst (So, 17 Uhr). Polyglottes Originalgenie oder poetischer Luftikus? Virtuoser Maskenspieler oder epigonaler Stimmenimitator? Raoul Schrott, der Lyrik-Archäologe und interkontinentale Sprachweltreisende aus Tirol, hat immer wieder die literarische Welt in Aufregung versetzt. In „Die Kunst an nichts zu glauben“ erprobt Raoul Schrott die Suggestivkraft der Dichtung: mit einer Poesie, die eine Moral ohne Gott entwirft und das Leben ganz im Diesseits preist (Sa, 18:30 Uhr). Hajo Steinert (Prosa), Michael Braun (Lyrik)

Samstag, 29. August, 14:00 bis 19:30 Uhr, Schlossgarten, Hauptpodium
Eintritt frei!

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