Karin Kiwus
Große lyrische Werke leiden oft darunter, dass sie von ihren Bewunderern missverstanden werden. Als 1976 der lyrische Erstling der damals 34jährigen Karin Kiwus erschien, wurde der Band „Von beiden Seiten der Gegenwart“ zwar unisono von der Literaturkritik gefeiert – aber gleich mit dem zweifelhaften Etikett versehen, eine bedeutende Stimme der sogenannten „Neuen Subjektivität“ zu sein. Dabei erwies sich Karin Kiwus’ Poesie von Beginn an als viel sprachskeptischer und formstrenger, als die Werke ihrer poetisch allzu nachlässigen Zeitgenossen. „Übung in freier Malerei“ hieß das erste Gedicht ihres Debütbandes – und signalisierte damit die starke Verbundenheit der Dichterin mit den Verfahrensweisen der Bildenden Kunst. Die „zögernde Erfindung jedes einzelnen“ ist das Programm ihrer Gedichte – und es wird in Ich-Erkundungsgedichten umgesetzt, die sich in einer kunstvollen Verschränkung von sinnlicher Wahrnehmung, skeptischer Reflexion und Erinnerungsbildern an die Dinge des Lebens herantasten.
1942 in Berlin geboren, studierte Karin Kiwus Publizistik, Germanistik und Politologie und arbeitete zunächst als wissenschaftliche Assistentin an der Berliner Akademie der Künste. Nach zwei Jahren als Lektorin beim Suhrkamp Verlag wurde ihr 1975 die Leitung der Abteilung Literatur an der Akademie der Künste übertragen, eine Funktion, die sie bis auf kurze Unterbrechungen bis 2005 innehatte.
In diesem Frühjahr ist nun unter dem Titel „Das Gesicht der Welt“ eine Gesamtausgabe der Gedichte von Karin Kiwus erschienen, die zwischen 1976 und 2006 veröffentlicht wurden – poetische Texte, die in ihrer Genauigkeit und ihrem sensiblen Möglichkeitssinn frisch geblieben sind wie am ersten Tag. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen, Gaststipendium der Stadt Graz (1977), Förderpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (1981), Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2005), Lyrikpreis Orphil der Stadt Wiesbaden (2014).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Von beiden Seiten der Gegenwart“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976
– „Angenommen später“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1979
– „39 Gedichte“, Reclam, Stuttgart 1981
– „Zweifelhafter Morgen“, Gedichte, Reclam, Leipzig 1987
– „Das Chinesische Examen“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „Nach dem Leben“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006
– „Das Gesicht der Welt“, Gedichte, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2014
So, 31.8., 17 Uhr, Schlossgarten