34. Erlanger Poetenfest — 28. bis 31. August 2014
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Autorenporträt: Navid Kermani
Reisender zwischen den Welten
Lesung und Gespräch mit Maike Albath

Wer ist Navid Kermani? Diese Frage lässt sich unmöglich mit einem Satz beantworten. Ohne Zweifel Romancier, habilitierter Orientalist, Essayist und Kölner. Immer wieder ein Reisender und Vermittler der islamischen Welt. Redner im Bundestag zur Feierstunde für 65 Jahre Grundgesetz. Auf jeden Fall ein Schriftsteller aus Deutschland. Allein durch seine Biografie illustriert Kermani den Wandel der bundesdeutschen Wirklichkeit. 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, studierte er in Köln, Kairo und Bonn und lebte einige Jahre in Isfahan, bis er nach Köln zurückkehrte. Seine verschiedenen Prägungen dienten ihm von Anfang an als Erkenntnisinstrument und flossen in seine wissenschaftliche, essayistische und literarische Arbeit ein. Neben Forschungen zum Koran und zur islamischen Mystik entstanden erste erzählerische Werke wie „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002), in dem die von Bauchweh geplagte Tochter nur mit Neil Young zu besänftigen ist, und „Kurzmitteilung“ (2007) über die Tiefausläufer eines Todesfalls.
Dem Zusammenhang von Literatur und Wirklichkeit ging Navid Kermani in seinem monumentalen Roman „Dein Name“ (2011) nach, der weit über tausend Seiten umfasst. In dieser „Selberlebensbeschreibung“, wie er das Unterfangen mit einem Begriff von Jean Paul charakterisierte, erzählte er von allem, was einen Menschen ausmacht: Geburt, Tod, Liebe, Alltag, Herkunft, Familie und Vergangenheitsbruchstücke. Vor allem der Großvater, der Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Kind aus Isfahan die Amerikanische Schule in Teheran besuchte, wurde heraufbeschworen. Ohne Widersprüche zu glätten oder die Verwandtschaft zu idealisieren, zeichnete der Autor die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Iran nach, die von der missglückten Landreform des Schahs über Khomeinis Revolution bis hin zu den Protesten im Jahr 2006 reichen. Dann wieder holte den Erzähler sein eigenes Leben ein: die Krankheit des Vaters und die Frühgeburt der zweiten Tochter. Kermani ging es in dem „Riesen-Knödel“, wie der durch das Tagebuch geisternde Verleger das Projekt tituliert, ebenso um orientalische Traditionen wie um elektrisierende Lektüren deutscher Klassiker.
Seine metapoetischen Überlegungen vertiefte er in den Vorlesungen „Über den Zufall“ und lieferte eine aufschlussreiche „tour d’horizon“ der deutschen Literaturgeschichte, die vor allem Hölderlin und Jean Paul in den Blick nahm. In dem schmalen Band „Große Liebe“, seinem jüngsten Werk, gelingt dem Schriftsteller eine bezwingende Engführung westdeutscher Realität und islamischer Mystik. Die lieblose Raucherecke zwischen Baumarktparkplatz und verwahrlostem Flussufer gewinnt ungeahnte Weiten, als sich der Held in die vier Jahre ältere „Schönste“ vom gesamten Schulhof verliebt. Alles wird ihm zum Zeichen – er erfährt „Einschnürung“ und „Ausdehnung“, die Vorboten einer jeden Liebe. Die tiefe emotionale Erfahrung gewinnt eine ästhetische Dimension, denn das Überwältigende seines Zustands erfährt der Held im Akt der Anbetung, und da liefert die arabisch-persische Liebesmystik zahlreiche Vorlagen. Diese aufgeladene Gefühlswelt gerät in einen erfrischenden Kontrast mit der Diesseitigkeit der 80er-Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt, in der Friedensdemos und Hausbesetzungen die Jugend in Aufregung versetzten. Dass Navid Kermani nicht nur ein sensibler, theorieversierter und einfallsreicher Erzähler ist, sondern auch ein genauer politischer Beobachter, stellte er in seiner mutigen Festrede vor dem Bundestag zum 65-jährigen Bestehen des Grundgesetzes im Mai 2014 eindrucksvoll unter Beweis. Hier berief er sich auf das Selbstverständnis Willy Brandts, sprach von einem „leisen Stolz“ auf Deutschland und gemahnte dennoch eine Asylpolitik im Sinne des Grundgesetzes an. Kermani ist das, was im aufgeklärten Frankreich ein „homme de lettres“ gewesen wäre. Ein Mann der Literatur.
Maike Albath

aktuell: Große Liebe. Roman. Hanser. München, Feb 2014
aktuell: Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. Hanser. München, Jul 2014

Samstag, 30. August, 20:30 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,00 / erm. 3,50 bis 10,00 / erm. 8,50 Euro

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