34. Erlanger Poetenfest — 28. bis 31. August 2014
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Die Revue der Neuerscheinungen I
Lesungen und Gespräche mit Ulrike Draesner, Maruan Paschen, Peter Wawerzinek, Michael Kleeberg, Karen Köhler, Reto Hänny, Lutz Seiler, Silke Scheuermann, Sherko Fatah und Olga Grjasnowa

Die Gier nach Leben und andere Illusionen

Auf den Wiesen des Schlossgartens in Erlangen sitzen und lagern die unterschiedlichsten Naturen: Liebespaare, Einsame, Schwärmer, Studenten, Pensionäre, Schüler, Träumer, Hellhörige, Lehrer, Tagträumer, Angestellte, Stammgäste wie Flaneure. Und alle wollen nur eines: zuhören, was in den Büchern mit den neuen Geschichten und Gedichten passiert, die Ohren spitzen, wie sie klingen, die Stimmen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller von heute. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass das, was von der großen Bühne im Halbstundentakt an Abenteuern und Seelenerkundungen, individuellen und historischen Konflikten in den unterschiedlichsten literarischen Formen in Tausende von Ohren strömt, nachklingen wird, in den erworbenen Büchern, bei Lesungen in Buchläden, in den Feuilletons. Ausgewählt von einem Team aus Literaturkritikern, Redakteuren und Moderatoren, unter der Obhut der Festivalleitung, im Kontakt mit Verlagen und Bürgerinnen und Bürgern, für die ein Leben ohne Literatur undenkbar ist, wird es auch in diesem Jahr viele Lesepremieren geben. Aber auch jenen Poeten und Geschichtenerzählern wird ein Forum geboten, deren Werke schon in den vergangenen Monaten Aufmerksamkeit erregt haben. „Die oder den wollte ich schon immer mal kennenlernen!“ – „Die oder den will ich unbedingt wieder erleben!“
Der Reihe nach: Die langen Lesenachmittage beginnen mit einer Autorin, die in ihrem jüngsten Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ mit epischem Atem von Krieg, Flucht und Vertreibung aus Schlesien erzählt. Vier Generationen kommen zu Wort. Vier unterschiedliche Stimmen, die Ulrike Draesner zu einem einzigartigen Zeitpanorama zusammenfügt. Indes hat die Autorin auch neue Gedichte geschrieben. Lautgedichte, dem Gesang der Vögel gleichsam abgelauscht. Sie werden im November unter dem Titel „Subsong“ erscheinen (Sa, 14 Uhr). Weiter geht es mit Maruan Paschen in ein Internat in den Bergen, wo sich unerklärliche Dinge zutragen. „Kai. Eine Internatsgeschichte“ ist ein literarisches Debüt und erzählt in assoziativ aufeinanderfolgenden dichten Sprachbildern vom Versuch, an einem beklemmenden Ort eine Freundschaft aufzubauen (Sa, 14:30 Uhr). Abgründig, existenziell, wüst und melancholisch, bisweilen aber auch hochkomisch, geht es in Peter Wawerzineks neuem Roman zu. In „Schluckspecht“ wird bis an die Grenze der Selbstauslöschung gesoffen, um endlich doch einen lebensfreudigen Ausweg aus der Sucht zu finden (Sa, 15 Uhr). Anschließend begrüßen wir Karlmann Renn. Er ist der Mann, der Vater, der Taumelnde zwischen Familie, Arbeit und Zeiten, die sich aus der Perspektive dieses gottverlassenen Jedermanns in diesem Jahrhundert so schnell ändern, dass einem beim Zuhören der Lesung von Michael Kleeberg aus „Vaterjahre“ der Atem stockt (Sa, 15:30 Uhr).
In ihren Erzählungen „Wir haben Raketen geangelt“ lässt Karen Köhler Überlebenskünstlerinnen an den ungewöhnlichsten Orten zu Wort kommen. Dabei gibt ihr Einfallsreichtum den Zuhörerinnen und Zuhörern im Schlossgarten – Vorsicht auf den Bänken! – Anlass zu Luftsprüngen (Sa, 16 Uhr). Gleiches gilt auch für Reto Hänny, der in seinem neuen Sprachfeuerwerk „Blooms Schatten“ das Kunststück einer tollkühnen Hommage an James Joyces „Ulysses“ fertig bringt und zugleich etwas ganz Eigenes, eine sprachliche Hochkomik sondergleichen erschafft (Sa, 16:30 Uhr). Einen lange erwarteten, von vielen regelrecht herbeigesehnten Roman, legt Lutz Seiler vor. In „Kruso“ folgt er den Spuren von Menschen, die nach ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind. Der Herbst 1989 und die darauf folgenden Jahre fördern Schicksale zutage, in denen es um mehr geht, als um Leben und Tod (Sa, 17 Uhr). Der neue, bereits vorab preisgekrönte Gedichtband „Skizze vom Gras“ von Silke Scheuermann steht in der Tradition poetischer Kosmogonien. Wie die Weltdeutungen der antiken Dichter Hesiod und Lukrez versuchen Scheuermanns Texte die Baupläne des Lebens und die Ordnung des Daseins zu erhellen (Sa, 17:30 Uhr). Im Thriller „Der letzte Ort“ erzählt Sherko Fatah packend von einem deutschen Aussteiger, der im Irak entführt wird. Der Roman bietet eine nervenaufreibende Grenzerfahrung (Sa, 18 Uhr). Von Moskau nach Berlin geht es in Olga Grjasnowas Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Die Tänzerin Leyla muss nach einem Unfall das Bolschoi-Theater verlassen. Ins Taumeln gerät auch ihre Beziehung zu einem Psychiater, als eine zweite Frau die Bühne betritt. Was wäre die Literatur ohne Dreiecksgeschichten! (Sa, 18:30 Uhr)
Und was wäre die Literatur ohne Ausbrüche aus dem – wie Kathrin Groß-Striffler es in ihrem neuen Roman „Zum Meer“ nennt – „Scheißleben“. Saskia, alleinerziehende Mutter, packt, jung wie sie noch ist, die reine Lebensgier. Sonne, Meer, Sex stehen gegen tägliche Überforderung, Eintönigkeit, notorische Schlaflosigkeit. Sie trifft eine radikale Entscheidung (So, 13:30 Uhr). Ricarda Junge erzählt in ihrem Roman „Die letzten warmen Tage“ eine weitverzweigte Liebes- und Familiengeschichte vor dem Hintergrund des geteilten Deutschland. Die 29-jährige Anna sucht ihren Großvater, der im August 1961 aus der DDR geflüchtet und seither verschollen ist. Die leidenschaftliche Liebesbeziehung zu einem 20 Jahre älteren Mann kommt dazwischen (So, 14 Uhr). Jan Wagner strebt in seiner Poesie stets die Balance zwischen dem Idyllischen und dem Unheimlichen, den Schwebezustand zwischen Schönheit und Schrecken an. In „Regentonnenvariationen“ erforscht er den Reichtum unseres kreatürlichen Daseins: schäumender Giersch, Weidenkätzchen und Würgefeige, Morchel, Melde, Olm und Otter (So, 14:30 Uhr). Das Wasser spielt einmal mehr eine vorwärtstreibende Rolle in John von Düffels neuem Buch. Seine „Wassererzählungen“ handeln unter anderem von einem Vater, der lernen muss, dass seine Tochter ihm entwächst, von einer Mutter, die damit leben muss, dass ihr Kind niemals geboren wird, von einem jungen Mann, der durch die eisige Ostsee schwimmt … (So, 15 Uhr).
Aufregende und ungewöhnliche Lebensgeschichten sind es, die uns interessieren. Lebensgeschichten, die den eigenen Horizont übersteigen und in Form biografischen Schreibens zumindest vorstellbar gemacht werden. Jürgen Neffe ist ein Meister biografischen Erzählens. In seinem Roman „Mehr als wir sind“ erzählt er die Lebensgeschichte von Janush Coppki, einem weltfremden Chemielaboranten Anfang des 21. Jahrhunderts, auf der Suche nach der „Weltformel des Lebens“ (So, 15:30 Uhr). Von jungen Menschen kurz vor dem Abitur, einer ersten Liebe hingegeben, aber auch von dem Drang gepackt, im Leben etwas zu erreichen, das über das Übliche hinausgeht, erzählt Lisa Kränzler in ihrem Roman „Lichtfang“ (So, 16 Uhr). Das Spannungsverhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit, Illusion und Tatsachen verleiht dem Roman von Yoko Tawada Dynamik und Poesie. In „Etüden im Schnee“ sind drei Eisbären – Großmutter, Mutter und Sohn – Migranten. Eine wunderschöne Fabel der im vergangenen Jahr mit dem „Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung“ ausgezeichneten deutsch-japanischen Autorin (So, 16:30 Uhr).
In „Das Gesicht der Welt“ sind Gedichte versammelt, die Karin Kiwus zwischen 1976 und 2006 geschrieben hat, poetische Texte, die in ihrer Genauigkeit und ihrem sensiblen Möglichkeitssinn frisch geblieben sind wie am ersten Tag. In kunstvoller Verschränkung von sinnlicher Wahrnehmung, skeptischer Reflexion und Erinnerungsbildern tastet sie sich an die Dinge des Lebens heran (So, 17 Uhr). „Neulich bekam ich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Ich bekomme oft solche Anfragen und weiß immer nicht, ob ich sie beantworten soll, was sie mir bringen könnten, mal davon abgesehen, dass Facebook ein Wartesaal für Idioten ist und ich mich seit Jahren frage, was mach ich hier eigentlich (…)“. Kann ein Text zeitgemäßer anfangen als „Wir waren niemals hier“ von Tex Rubinowitz, der in diesem Jahr den Ingeborg Bachmann-Preis gewann (So, 17:30 Uhr)? „Koala“ ist der Titel eines Romans, der von mehr handelt, als von einer bedrohten Tierart. Lukas Bärfuss‘ kluger, brillant geschriebener Roman erzählt von zwei Brüdern. Einer von beiden ist in den Freitod gegangen. Der Autor spürt dem Schicksal nach und versucht, Antworten auf Fragen zu finden, die so gewöhnlich sind wie das gewöhnliche Leben und der Tod (So, 18 Uhr).
Liebe und Tod, die Natur und ihr Klang, das Ich und seine Verlorenheit im All und anderswo.
Hajo Steinert

14:00 Uhr Ulrike Draesner Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. Luchterhand. München, Mrz 2014 // Subsong. Gedichte. Luchterhand. München, 3. Nov 2014
14:30 Uhr Maruan Paschen Kai. Eine Internatsgeschichte. Matthes & Seitz. Berlin, 23. Aug 2014
15:00 Uhr Peter Wawerzinek Schluckspecht. Roman. Galiani. Berlin, Mrz 2014
15:30 Uhr Michael Kleeberg Vaterjahre. Roman. DVA. München, 18. Aug 2014
16:00 Uhr Karen Köhler Wir haben Raketen geangelt. Erzählungen. Hanser. München, 25. Aug 2014
16:30 Uhr Reto Hänny Blooms Schatten. Matthes & Seitz. Berlin, Feb 2014
17:00 Uhr Lutz Seiler Kruso. Roman. Suhrkamp. Berlin, 6. Sep 2014
17:30 Uhr Silke Scheuermann Skizze vom Gras. Gedichte. Schöffling & Co. Frankfurt a. M., 5. Aug 2014
18:00 Uhr Sherko Fatah Der letzte Ort. Roman. Luchterhand. München, 11. Aug 2014
18:30 Uhr Olga Grjasnowa Die juristische Unschärfe einer Ehe. Roman. Hanser. München, 25. Aug 2014

Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert, Maike Albath und Dirk Kruse

Samstag, 30. August, 14:00 bis 19:30 Uhr, Schlossgarten, Hauptpodium
Eintritt frei!

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