Olga Martynova
Wer sich als Dichter zwischen den Sprachen bewegt, zwischen der Vertrautheit der Muttersprache und der Fremdsprache einer neuen Heimat, stößt zunächst auf Differenzen. Die Wörter und die Dinge, die einst so selbstverständlich aufeinander bezogen schienen, passen nicht mehr zueinander. In einem Gedicht der 1962 im sibirischen Dudinka bei Krasnojarsk geborenen Olga Martynova hört das Ich eines Nachts aus einem Strauch einen unsichtbaren Nachtvogel singen. „Für mich als russischen Menschen“, heißt es dann, „sind sie hier alle auf Deutsch ‚Nachtigallen’“. Und dann gibt es in diesem Gedicht noch ein anderes Tiergeräusch, ein Zirpen nämlich. Es rührt her von einem Heimchen, einer Grille. Bei Martynova haben die Gesänge der beiden Tiere unmittelbar mit den Differenzen des Deutschen und des Russischen zu tun: Die Nachtigall singt „fleißig die deutschen Tonleitern ab“, das Zirpen der Grille, des Heimchens, hat dagegen etwas Russisches. Wer kommt der Dichtung also näher – Grille oder Nachtigall? Olga Martynova, die 1991 mit ihrem Mann Oleg Jurjew von Sankt Petersburg nach Frankfurt kam, hat beide Gesangsformen in ihre Dichtung aufgenommen. Sie ist, so hat es ein Kollege gesagt, „eine sensualistische Dichterin im besten Sinn“. Sie erkundet mit weit geöffneten Sinnen Naturstoffe und Landschaften, Metropolen und Mythen: die Zypressen im Winter, den Wind vor dem Fenster oder legendäre Städte wie Rom oder Sankt Petersburg. In ihrem neuen Gedichtbuch „Von Tschwirik und Tschwirka“ schöpft Olga Martynova aus dem fantastischen Laboratorium der russischen Poesie. Olga Martynova schreibt ihre Gedichte auf Russisch, gemeinsam mit Elke Erb hat sie ihre bisherigen Gedichtbände ins Deutsche übertragen. Ihre Romane, Essays und Literaturkritiken wiederum schreibt sie auf Deutsch. Ihr Prosatext „Ich werde sagen: ‚Hi!’“, für den sie kürzlich mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, erzählt von einem Jugendlichen, der in den Sommerferien von der Liebe träumt und die verwirrenden Gerüche der Frauen wahrnimmt und zugleich in eine literarische Existenz aufbricht, eine – so der Bachmann-Juror Paul Jandl – „Geburt des Dichters aus dem Geist der Erotik“. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Hubert-Burda-Preis für osteuropäische Lyrik (2000), Stipendium des Baltischen Zentrums für Autoren und Übersetzer in Visby/Schweden (2005), Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben (2007), Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis (2011), Ingeborg Bachmann-Preis (2012).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Brief an die Zypressen“, Gedichte, übers. zus. mit E. Erb, Rimbaud, Aachen 2001
– „Wer schenkt was wem“, Essays, Rimbaud, Aachen 2003
– „Rom liegt irgendwo in Russland“, Gedichte, zus. mit J. Schwarz, übers. zus. mit E. Erb, Ed. per procura, Wien 2006
– „In der Zugluft Europas“, Gedichte, übers. zus. mit E. Erb u. a., Das Wunderhorn, Heidelberg 2009
– „Sogar Papageien überleben uns“, Roman, Droschl, Graz 2010
– „Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog“, Bernstein, Bonn 2011
– „Von Tschwirik und Tschwirka“, Gedichte, übers. zus. mit E. Erb, Droschl, Graz 2012
– „Mörikes Schlüsselbein“, Roman, Droschl, Graz, März 2013
Samstag, 25. August, 14 Uhr, Schlossgarten und
Sonntag, 26. August, 17 Uhr, Orangerie