Veranstaltung
Autorenporträt: Uwe Timm
Vergangenheit ist immer neu
Lesung und Gespräch mit Maike Albath
Wollte man einem Inder oder Brasilianer erklären, was es mit Deutschland auf sich hat, könnte man die gesammelten Romane von Uwe Timm vor ihm ausbreiten. Von der Studentenbewegung über das Vermächtnis des Nationalsozialismus bis zur bundesrepublikanischen Saturiertheit und zur halb verdauten Wiedervereinigung tastet sich Uwe Timm immer wieder an die Knotenpunkte der deutschen Identität heran. Dass Uwe Timm die unterschiedlichsten Milieus literarisch durchdringt, erklärt sich auch aus seiner Herkunft. 1940 in Hamburg geboren, zeitweise in Coburg bei einem Onkel aufgewachsen, waren ihm von Kindheit an ganz verschiedene Ausformungen der Wirklichkeit vertraut. Den Beruf des Kürschners erlernte Timm im Geschäft seines Vaters. Nach dessen Tod sah sich der gerade Achtzehnjährige in der Zwangslage, ein hochverschuldetes Unternehmen entschulden zu müssen. Dass es ihm gelang, ist ein Beweis für die zähe Unbeirrbarkeit, die er seit jeher für seine literarischen Projekte aufbrachte. Der Tod des älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg war so etwas wie ein Auftrag – denn „Schreiben ist Notwehr“, formulierte er einmal. Wenigstens mit Worten lassen sich die Beschädigungen der Brüder und Väter ertasten, deren Hinterlassenschaften schließlich noch die Enkelgeneration prägen.
1963 holte Uwe Timm das Abitur nach und promovierte in München mit einer Arbeit über das Absurde bei Camus. Die Atmosphäre der Prä-68er-Zeit wird in seiner elegant-beiläufigen Novelle „Freitisch“ (2011) heraufbeschworen. Obwohl die gesellschaftlichen Umbrüche schon in der Luft liegen, verlaufen die mittäglichen Zusammenkünfte äußerst gesittet. Die Herren siezen sich, über Privates wird nicht gesprochen, über Politisches umso mehr, und auch literarisch geht es zur Sache – Idol und Schutzgott der jungen Männer ist Arno Schmidt. Vierzig Jahre später treffen zwei der Freitischler unvermutet aufeinander, ausgerechnet in den förderungsbedürftigen neuen Bundesländern: der eine als alerter Investor, der andere als verschrobener Antiquar. So kann man Mentalitätsgeschichte also auch betreiben. In seinem Debüt „Heißer Sommer“ (1974), in „Kerbels Flucht“ (1980), „Rot“ (2001) und „Der Freund und der Fremde“ (2005) umkreist Uwe Timm die Hoffnungen, Ernüchterungen und ideologischen Verhärtungen der Studentenbewegungen. Die fatalen Folgen des Kolonialismus stehen in „Morenga“ (1978) und „Der Schlangenbaum“ (1986) im Mittelpunkt. Neben hochkomischen Betrachtungen der Nachkriegszeit, wie in „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993), fühlt Uwe Timm auch der Geschäftswelt auf den Zahn. Dass der Schriftsteller in „Kopfjäger“ (1991) bereits die Verführungskräfte des Finanzwesens als einen Schwachpunkt moderner Demokratien erkannte, wirkt von heute aus betrachtet geradezu verblüffend. Bedrängende Intensität erreichte Uwe Timm mit seiner autobiografischen Recherche „Am Beispiel meines Bruders“ (2003), in der er Passagen aus dem Tagebuch des 1943 im Lazarett verstorbenen Bruders mit Briefen und Erinnerungssplittern montiert. Die Allgegenwart der Kriegsgeschehnisse, die sich in den Biografien der Überlebenden ablagerte, wird auf beklemmende Weise spürbar. Die Vergangenheit sei immer neu, zitiert Timm den italienischen Schriftsteller Italo Svevo in seiner Frankfurter Poetikvorlesung. Vor diesem Hintergrund passiert in seinen Büchern die Dechiffrierung der Gegenwart. Seine Neugierde auf Currywurst-Erfinderinnen, Beerdigungsredner, Investoren oder Arno Schmidt-Süchtige ist bis heute nicht versiegt.
Maike Albath
aktuell: Freitisch. Novelle. Kiepenheuer & Witsch. Köln, 2011
Freitag, 24. August, 20:30 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,00 / erm. 3,50 bis 10,00 / erm. 8,50 Euro