32. Erlanger Poetenfest — 23. bis 26. August 2012
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Porträt International: Jean-Philippe Toussaint
Was ein Schriftsteller über sich selbst in seinen Büchern verbirgt
Lesung und Gespräch mit Verena Auffermann
Lesung in deutscher Sprache und Übersetzung: Joachim Unseld

Als junger Mann interessierte sich Jean-Philippe Toussaint für den Fußball, das Kino, Scrabble, Schach und nicht für die Bücher. Er lebte in Belgien, sein Vater war Journalist, seine Mutter Buchhändlerin, sein Großvater besaß in Paris eine Gelehrtenwohnung, jedenfalls beschreibt er das so. Was an einem Herbsttag im Jahr 1979 in ihn gefahren war? Er erzählt davon in seinem jüngsten Buch „Die Dringlichkeit und die Geduld“. Jean-Philippe Toussaint saß damals in einem Pariser Bus zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille, als es ihn wie ein Blitz überfiel. Er würde Schriftsteller werden, sofort und unbedingt. Angekommen in seiner Bude schrieb er: „Es geschah wohl aus Zufall, dass ich das Schachspiel entdeckt habe“. Der erste Satz stand auf dem Blatt. Zufall? Hat Toussaint sich diese kleine Anekdote ausgedacht, ausgedacht wie die atemlos vorgetragene Handlung seiner Romane?
Nicht ausgedacht hat er sich die Liste seiner literarischen Ahnen, von Dostojewski bis Flaubert, seine Verehrung für Samuel Beckett und seinen Pariser Verleger J. Lindon. Wenn es nicht die Erleuchtung im Bus gewesen ist, dann war einer der Gründe die Lektüre von „Schuld und Sühne“ und seine Faszination für den Mörder Raskolnikow. Und wenn Jean-Philippe Toussaint etwas von Dostojewski gelernt hat, dann ist es der Umgang mit dem Geheimnisvollen, dem latent Lebensbedrohlichen.
Deshalb ist es nicht verblüffend, dass Zinédine Zidanes Kopfstoß während der Fußballweltmeisterschaft 2006 Jean-Philippe Toussaint herausforderte, ein Kabinettstück über „Zidanes Melancholie“ zu verfassen. Denn das Rätsel einer verrückten und brutalen Handlung, eines Abschieds, einer Liebe, ob aus Enttäuschung, ob aus Wut, ob aus einem ganz anderen Grund, der mit dem Erkennbaren gar nichts zu tun hat, immer schwingt im unsichtbaren Hintergrund seiner lobenswert schmalen Romane so etwas mit wie Raskolnikows Axt, Raskolnikows Begierde, seine Bedürfnisse, Gefühle und Sehnsüchte.
Jean-Philippe Toussaint gibt in seinem neuesten Buch „Die Dringlichkeit und die Geduld“, in einer verdeckten Autobiografie weniger über sich als über das Schreiben Auskunft. Oder über das etwas, das jeder Schriftsteller über sich selbst in seinen Büchern verbirgt. Jean-Philippe Toussaints Kinoleidenschaft – er hat einige seiner Romane selbst verfilmt – verwandelt ihn beim Schreiben in einen szenisch denkenden Meister, der seine Personen und ihre Handlungen so plastisch darstellt, dass man nach der Lektüre seiner Bücher, sei es „Der Photoapparat“, „Sich lieben“, „Fliehen“ oder „Die Wahrheit über Marie“ als Leser fast nicht weiß, ob man einen Roman gelesen oder doch einen Kinofilm gesehen hat. Einen Film, in dem Marie, die schöne Künstlerin und Modedesignerin, Tüten und Koffer vollstopft, um in Tokio oder in Shanghai aus dem Flugzeug zu steigen und mit ihrem Liebhaber zwischen Traum und Jetlag Dinge zu erleben, die in ihrer Eigenartigkeit unser Sehen und Denken, unser Erfahrungswissen aus den Angeln heben und in eine unvergessliche Aura überführen.
Jean-Philippe Toussaint ist in Frankreich mit allen großen Literaturpreisen ausgezeichnet worden, es liegt an uns, ihn endlich zu entdecken. Kaum ein Autor verbindet Kino und Literatur, Atmosphäre und Spannung besser als der zwischen Brüssel und Korsika nomadisierende belgische Schriftsteller.
Verena Auffermann

aktuell: Die Dringlichkeit und die Geduld. Essays. Übersetzung aus dem Französischen: Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a. M., Okt 2012

Sonntag, 26. August, 20:30 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,00 / erm. 3,50 bis 10,00 / erm. 8,50 Euro

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