32. Erlanger Poetenfest — 23. bis 26. August 2012
Nebenpodium im Schlossgarten. Moritz Rinke im Gespräch mit Verena Auffermann – Foto: Erich Malter, 2006

Veranstaltung


Die Revue der Neuerscheinungen II
Lesungen und Gespräche mit Nora Bossong, Michael Buselmeier,
Jenny Erpenbeck, Nicol Ljubić, Michael Maar, Andre Rudolph, Julia Schoch,
Gerhard Seyfried, Anne Weber, Arezu Weitholz

Spurensuchen im Lesepark

Mit der Lupe in der Hand, Lesebrille auf der Nase, Kamera im Anschlag, Mikrofon auf dem Tisch, dem Röntgenbild an der Wand – überall wird nach Spuren gesucht: im Familienalbum, in der Bibliothek, im umkämpften Krisengebiet, im Gespräch mit dem letzten Zeitzeugen, im eigenen Körper. Sobald ein Schriftsteller seinen ersten Satz geschrieben hat, hat seine Spurensuche begonnen, seine Reise in die Vergangenheit, seine Expedition ans Ende der Welt, sein Spaziergang in die Nachbarschaft, sein Weg zu sich selbst.
Die Literatur dieses Sommers und Herbstes ist voll mit dramatischen, schönen, komischen, übermütigen, auch traurigen Geschichten, in denen die Autorinnen und Autoren den verdrängten und vergessenen Kapiteln der Geschichte, und damit auch sich selbst, auf die Spur kommen. Sie nehmen uns mit auf ihre Reisen. Nicht nur, damit wir Zeuge des Erzählten werden, sondern um zu uns selbst finden, wenn wir weiterlesen, allein zu Hause und dabei unserer eigenen Geschichte auf die Spur kommen, unseren eigenen Gefühlen, unserem eigenen Schicksal, der eigenen Sprache, dem eigenen Rhythmus, dem eigenen Ton. Literatur stiftet an. Man weiß nicht, wenn die Reise beginnt, wohin sie führt, in welchem Zustand wir am Ende nach Hause gehen, wie das Erlebte in uns weiterwirkt.
Aber so viel steht fest: Wir reisen auch in diesem Jahr nicht in einer Einbahnstraße, genauso wenig auf einer gradlinigen Autobahn. Es gibt Streckenabschnitte mit Geschwindigkeitsbegrenzung, manchmal düsen sie einfach los, gelegentlich heben sie ab, die Poeten, schweben über den Wolken, geraten ins Stocken, fahren mit uns Karussell, schieben steiniges Erdreich vor sich her, manchmal bleiben sie auch mitten auf der Straße stehen und schauen durch das Schiebedach hindurch in den Himmel. Wolken, überall Wolken! Sie sind es, die die Literatur braucht. Blauer Himmel ist gar nicht so gut. Für den packenden, zurzeit des Ersten Weltkriegs spielenden Spionageroman „Verdammte Deutsche!“ von Gerhard Seyfried (So, 17:30 Uhr) so wenig wie für den neuen Roman „Indigo“ von Clemens J. Setz (Sa, 16:30 Uhr), in dem Schulkinder in seltsamen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel weggefahren werden. Als es Rainer Merkel (Sa, 17 Uhr) in den Kosovo, nach Liberia und Afghanistan zog, wusste er nicht, was auf ihn zukommt. Seine Reportagen „Das Unglück der anderen“ sind nicht Journalismus, sie sind Literatur.
Marcel Beyer (Sa, 15:30 Uhr) findet in seinen Spurensuchen „Putins Briefkasten“ in Dresden, wo der Russe mal gelebt haben muss. Bei ihrer Beschäftigung mit unergründlichen, indes höchst prickelnden Leidenschaften wie Glücksspiel und Liebe ist Julia Schoch (So, 16:30 Uhr) in ihrem Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“ auf eine denkwürdige Gestalt der Vergangenheit gestoßen. Michael Maar (So, 15:30 Uhr) treibt in seinem Debütroman „Die Betrogenen“ einen fiktiven Schriftsteller durch das Labyrinth einer Scheinwelt. Nora Bossong (So, 13:30 Uhr) erzählt in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ virtuos vom Aufstieg und Fall eines Familienunternehmens. „Aller Tage Abend“ heißt der neue Roman von Jenny Erpenbeck (So, 18 Uhr). Wenn sie eine Familiengeschichte erzählt, bleibt kein Stein auf dem anderen. Wo bei anderen der Anfang am Anfang steht, steht bei ihr der Anfang am Ende. Der eigentlich ganz glücklich verheiratete Philosophieprofessor in Stephan Thomes (Sa, 14:30 Uhr) zweitem Roman „Fliehkräfte“ ist am Ende. Das Reisen, fort von seiner schönen Frau, fort von seinem wohlgeratenen Kind, wird zur Grenzerfahrung. Was mit einem Mann passiert, der sich von der Liebe eigentlich schon verabschiedet hat, nun aber seiner großen Liebe in der Bretagne begegnet – davon erzählt Anne Weber (So, 16 Uhr) in „Tal der Herrlichkeiten“ traumwandlerisch und irdisch.
Seyfried, Merkel, Beyer, Bossong, Setz, Erpenbeck, Schoch und Thome – das sind Autorinnen und Autoren, denen wir nach ihren Erfolgen mit Büchern in früheren Jahren zutrauen dürfen, dass sie ihre Zuhörerinnen und Zuhörer einmal mehr in ihren Bann ziehen. Aber wird man einen gebildeten Kenner der Literaturgeschichte wie Michael Maar auch als Erzähler respektieren? Wird Arezu Weitholz (So, 14:30 Uhr), die als Textlektorin für Grönemeyer, Lindenberg und Campino gearbeitet und auch selbst eigene Gedichte geschrieben hat, auch als Romanautorin die Bühne des Erfolgs betreten? „Wenn die Nacht am stillsten ist“ ist eine ziemlich abgedrehte Geschichte. Werden das Erlanger Publikum und die anwesende deutsche Presse die russischstämmige Olga Martynova (Sa, 14 Uhr), die mit einem unveröffentlichten Textauszug in Klagenfurt kürzlich den Ingeborg Bachmann-Preis gewann, in ihr Herz schließen? Wird der erste Roman der auf deutschen Bühnen überaus erfolgreichen Dramatikerin Dea Loher (Sa, 17:30 Uhr) so formvollendet sein wie ihre Stücke? „Bugatti taucht auf“ ist die Rekonstruktion eines tödlichen Angriffs gewalttätiger Jugendlicher. Von einer ganz anderen Form der Gewalt, der Gewalt der „smarten“ Kontrolle handlicher Medien, erzählt Benjamin Stein (Sa, 18:30 Uhr) in seinem Roman „Replay“. Wir werden hören, wir werden sehen.
In den zwölf Kapiteln des Gedichtbandes „Rede“ umkreist Kerstin Preiwuß (Sa, 16 Uhr) die tiefgreifende Erschütterung und Veränderung eines Ich, das sich seiner selbst nur mehr vergewissern kann in diversen Maskeraden und Verwandlungsritualen. Poetische Kunstfertigkeit hat bereits vor 15 Jahren der große Peter Rühmkorf bei dem jungen Alexander Nitzberg (Sa, 18 Uhr) erkannt, ihn als „Musenjüngling, der einfach zu gut ist“ qualifiziert und ihn zudem als „Rastelli der Reimkunst“ geadelt. Im Gedicht „destruktive interferenz“ aus Andre Rudolphs (So, 15 Uhr) neuem Band „confessional poetry“ erprobt ein Zugreisender die sinnlichen Qualitäten einer Compact Disc und lauscht ihrem „silbernen herzschlag“. Der leuchtkräftige Gedichtband „Dante deutsch“ von Michael Buselmeier (So, 17 Uhr) versammelt pathetisch stark aufgeladene Visionen von Höllenwanderungen und Paradies-Phantasmagorien, abgeleitet aus realgeschichtlichen Szenarien des Schreckens. Dem hohen Ton religiöser Innigkeit, der sich in manchen Gedichten entfaltet, wird eine kathartische Wirkung zugesprochen.
Hajo Steinert / Michael Braun (Lyrik)

13:30 Uhr Nora Bossong Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Roman.
Hanser. München, 27. Aug 2012
14:00 Uhr Nicol Ljubić Als wäre es Liebe. Roman. Hoffmann und Campe.
Hamburg, 12. Sep 2012
14:30 Uhr Arezu Weitholz Wenn die Nacht am stillsten ist. Roman.
Kunstmann. München, 5. Sep 2012
15:00 Uhr Andre Rudolph confessional poetry. Gedichte. luxbooks.
Wiesbaden, Mrz 2012
15:30 Uhr Michael Maar Die Betrogenen. Roman. C. H. Beck. München, Jul 2012
16:00 Uhr Anne Weber Tal der Herrlichkeiten. Roman. S. Fischer.
Frankfurt a. M., 23. Aug 2012
16:30 Uhr Julia Schoch Selbstporträt mit Bonaparte. Roman. Piper.
München, 20. Aug 2012
17:00 Uhr Michael Buselmeier Dante deutsch. Gedichte. Das Wunderhorn. Heidelberg, Aug 2012
17:30 Uhr Gerhard Seyfried Verdammte Deutsche! Spionageroman. Knaus. München, 10. Sep 2012
18:00 Uhr Jenny Erpenbeck Aller Tage Abend. Roman. Knaus.
München, 20. Aug 2012

Moderation Hauptpodium: Hajo Steinert

Sonntag, 26. August, 13:30 bis 19:00 Uhr, Schlossgarten, Hauptpodium
Eintritt frei!

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