Veranstaltung
Porträt International: Liao Yiwu
Für ein Lied und hundert Lieder
Lesung und Gespräch mit Thomas Fröhlich
Übersetzung: Tienchi Martin-Liao, Lesung in deutscher Sprache: Markus Hoffmann
„Ich kämpfte etwa fünf Minuten um mein Leben, wie ein Aal im Schlamm, die Hände wurden mir auf den Rücken gefesselt, und die Männer drängten sich mit ihrem Paket auf den Rücksitz eines mittleren Jeeps. Zwei große Kerle hielten mich in der Mitte, sie dampften vor Wut, dann knallte die Tür zu. (…) ‚Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!’ brüllte der Kerl rechts von mir und rüttelte an meinen Fesseln – die Stahlzähne bohrten sich knirschend ins Fleisch, aber ich war schon ganz apathisch, oder besser gesagt, ich war tot.“
Liao Yiwu wurde 1958 in der Provinz Sichuan geboren. Als sein Vater 1966 als Konterrevolutionär angeklagt wurde, trennten sich seine Eltern zum Schutz ihrer Kinder. Er wuchs bei seiner Mutter auf, die die Familie mit Handlangertätigkeiten über Wasser hielt. Nach Beendigung der Schule schlug sich Liao Yiwu als Tagelöhner, Koch und Lkw-Fahrer durch. Zugleich wuchs sein Interesse für Literatur, er las westliche Literaten von Baudelaire über Neruda bis Whitman und begann eigene Verse zu verfassen. In den 80er-Jahren entwickelte er sich zu einem der wichtigsten und angesehensten Dichtern Chinas.
Der Bruch kam 1989: Mit seinem Gedicht „Massaker“, in dem er sich mit der blutigen Niederschlagung der demokratischen Bewegung am Platz des Himmlischen Friedens auseinandersetzte, fand Liao Yiwus Leben als Dichter ein jähes Ende und eine Höllenfahrt aus Verfolgung, Inhaftierung und gesellschaftlicher Stigmatisierung begann. Seiner eingangs beschriebenen Festnahme folgten Inhaftierung, Misshandlungen und Folter. 1994 wurde Liao Yiwu aus dem Gefängnis entlassen. Erfolglos versuchte er wieder zu publizieren, aber Öffentlichkeit, Familie und Freundeskreis hatten sich von ihm abgewandt. Als Straßenmusiker – ein Mithäftling hatte ihm das Flötespielen beigebracht – kämpfte er ums Überleben. Hunger, Schande, Gefängnis und Obdachlosigkeit nennt Liao Yiwu seine vier Lehrmeister.
Auf diese Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt, fand Liao Yiwu zu einer neuen Form des Schreibens: Im Jahr 2009 erschien in Deutschland „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. Eine Prostituierte, ein buddhistischer Mönch und ein Klomann, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng Shui-Meister – sie und viele andere befragt er darin mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen. Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen – ein China der Ausgestoßenen und Randständigen, deren Würde und Menschlichkeit ihnen niemand nehmen kann. Das Buch erschien in Amerika und Europa und machte Liao Yiwu auf einen Schlag zu einem der international bekanntesten Literaten Chinas.
Der internationale Druck auf die chinesische Regierung wuchs so stark, dass ihn das Regime 2010 zum ersten Mal zu einigen Lesungen nach Deutschland ausreisen ließ. „Der Schrei“ wird das unter dem Titel „Massaker“ bekannte Gedicht, das Liao Yiwus Leben so nachhaltig verändern sollte, auch betitelt. Und so hört es sich auch an, wenn er liest. Man muss kein Chinesisch verstehen, um den Schmerz und die Verzweiflung zu erleben und zu begreifen, dass er ein großer Gesamtkünstler ist: Lyriker, Musiker, Schauspieler, Chronist und Reporter in einer Person. Ein Schriftsteller von Weltrang, der sich – trotz weiterhin drohender Verfolgung – nach seiner Lesereise im vergangenen Jahr dazu entschloss, wieder in seine Heimat zurückzukehren.
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“, das er – weil sein Manuskript immer wieder beschlagnahmt wurde – drei Mal schreiben musste, schildert Liao Yiwu die brutale Realität seiner eigenen Inhaftierung. Dabei ist er schonungslos, auch sich selbst gegenüber. Als er den chinesischen Behörden unterschreiben muss, das Buch nicht im Ausland zu publizieren, entschließt er sich schweren Herzens, China doch wieder zu verlassen. Von Exil möchte er jedoch nicht sprechen, er hofft, dass er eines Tages zurückkehren kann.
Samstag, 27. August, 21:00 Uhr, Markgrafentheater
Eintritt: von 5,– / erm. 3,50 bis 10,– / erm. 8,50 Euro