Norbert Gstrein

„Wem gehört eine Geschichte?“, fragt Norbert Gstrein 2004 in einem Essay, nachdem er für seinen Roman „Das Handwerk des Tötens“ über einen im Kosovo-Krieg erschossenen „Stern“-Reporter kritisiert wurde. Der 1961 in Tirol geborene und in Hamburg lebende Autor beschäftigt sich in seinen Romanen schon lange mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion und der Frage, wie eine reale Person zur literarischen Gestalt wird. In seinem neuen Roman „Die ganze Wahrheit“ legt Gstrein noch einen drauf und schreibt einen Roman über eine Verleger-Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes die Leitung des Verlags übernimmt. Die Parallelen zu Ulla Berkéwicz, die den Suhrkamp Verlag seit dem Tode ihres Mannes Siegfried Unseld leitet, sind unübersehbar. Gstrein, 15 Jahre lang Autor bei Suhrkamp, hatte sich mit der Verlegerin überworfen und ist zum Hanser-Verlag gewechselt, bei dem der neue Roman gerade erschienen ist. Darin beschreibt ein gefeuerter Lektor seine ehemalige Chefin und dieses „Verlegerinnen-Porträt“ fällt nicht gerade charmant aus: Verschwörungswahn, Hexerei und Mannstollheit sagt der Ich-Erzähler der Frau nach. Diese ist zwar blond und nicht schwarzhaarig und leitet einen kleinen Verlag in Wien und keinen großen in Berlin, doch die Bezüge zum realen Vorbild sind deutlich und gewollt. Es ist durchaus vorstellbar, dass „Die ganze Wahrheit“ beim Poetenfest nicht auf dem Büchertisch zu finden sein wird – Gstrein wäre nicht der erste Autor, der sich einer Unterlassungsklage beugen müsste. Dabei bietet dieser Roman mehr als einen absehbaren Literaturskandal: Mit einer vielschichtigen Konstruktion und dichter Prosa ist er Kunstwerk und nicht Machwerk. (D. K.)
Auszeichnungen u. a.: Bremer Literaturförderpreis, Rauriser Literaturpreis, Stadtschreiber in Graz, Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1989), Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises, Berliner Literaturpreis (1994), Alfred-Döblin-Preis (1999), Kunstpreis des Landes Tirol (2000), Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2001), Uwe-Johnson-Preis (2003), Franz-Nabl-Preis (2004).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Einer“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988
– „Anderntags“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989
– „Das Register“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „O2“, Novelle, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993
– „Der Kommerzialrat. Bericht“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Die englischen Jahre“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999
– „Selbstportrait mit einer Toten“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000
– „Das Handwerk des Tötens“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003
– „Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens”, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004
– „Die Winter im Süden“, Roman, Hanser, München 2008
– „Die ganze Wahrheit“, Roman, Hanser, München, August 2010

Samstag, 28. August, 14:00 Uhr, Nebenpodium I und 16:00 Uhr, Schlossgarten


 

Druckansicht