
Porträt International: David Grossman
Lesung und Gespräch mit Verena Auffermann
Lesung in deutscher Sprache: Petra Nacke
Gespräch in englischer Sprache mit deutscher Simultanübersetzung
Diesen Krieg kann keiner gewinnen
David Grossman ist ein großer Erzähler. Er ist einer von denen, die ihr literarisches „Kraftfeld“ bei Kafka und Thomas Mann gefunden haben. Auf sein größtes Lebensbuch stieß er jedoch bereits im Alter von acht Jahren. Es waren Scholem Alejchems „Geschichten aus Anatevka“. Der Junge saß auf der Fensterbank seiner elterlichen Wohnung im Jerusalemer Bejt-Masmil-Viertel und las von den entwurzelten Juden aus dem osteuropäischen Schtetl. Von dort war 1936 David Grossmans eigener Vater nach Israel gekommen. Scholem Alejchems Geschichten entführten das Kind ins Gelobte Land. Wenig später wurde dem Jungen, nachdem er alle sechs Bände von Scholem Alejchem gelesen hatte, klar, dass die ermordeten Juden seine „Leute“ waren und er spürte die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten. So wurde er nach dem Studium der Philosophie Schriftsteller, denn er wollte, dass die Jugend erfährt, was ihre Eltern ihr verschwiegen. Er nahm sich vor, schreibend Identitäten und zerfallene jüdische Welten wieder zusammenzufügen und schrieb Jugendbücher, Theaterstücke und viele Romane. Einer seiner bekanntesten heißt: „Stichwort: Liebe“. David Grossman wurde Friedensaktivist, hielt unzählige politische Reden, mischte sich öffentlich ein und äußerte sich in seinen vielen Büchern kritisch zum Nahostkonflikt. Er war mitten in der Arbeit an seinem mehr als 700 Seiten umfassenden opus magnum „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, als am 12. August 2006 Uri, eines seiner drei Kinder, am letzten Tag des zweiten Libanon-Krieges von einer Rakete tödlich getroffen wurde. Nach der Trauerzeit schrieb er an „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ weiter. Die entsetzliche Realität hatte den Stoff des Romans eingeholt. Denn der Roman handelt in packender und heutiger Sprache von nichts anderem, als der Angst. Von der schrecklichen, erwürgenden Angst vor dem Tod. Vor dem Tod der Kinder in der Armee. „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist ein großer Roman aus der Sicht einer Frau geschrieben, aus der Perspektive Oras. Ora, die als 16-jährige Schülerin auf der Isolierstation eines Krankenhauses mit einem fiebrigen Infekt liegt und dort zwei ebenfalls infizierte Schüler kennenlernt, Avram und Ilan. Die erwachsene Ora wird beide Männer lieben, zwei Söhne bekommen, sie wird sich trennen und leiden. Und die Absurdität des Staates Israel wird Ora an dem Tag besonders deutlich, als sie ihren Sohn, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hat, in ein militärisches Basislager bringen muss. In ihrer Panik, dass Ofer etwas zustoßen könnte, hat sie nicht bedacht, dass Sami, der arabische Familienfreund und Chauffeur, zu den Menschen gehört, gegen die Israels Armee mit dem jungen Soldaten Ofer Krieg führt. Es sind viele kleine ergreifende und verzweifelte Szenen wie diese, die von der Absurdität eines Landes erzählen, das sich ständig im Krieg befindet.
„Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist eine erschütternde Analyse des heutigen Israel und ein kritischer Bericht über die Lebenswirklichkeit mit zwei „armselig geschlagenen Gegnern“, Israel und Palästina. Der neunundfünfzigjährige Schriftsteller David Grossman ist einer der wichtigsten Autoren seines Landes.
Verena Auffermann
Sonntag, 30. August, 20:30 Uhr, Markgrafentheater
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