
Porträt International: Murathan Mungan
Lesung und Gespräch mit Recai Hallaç
„Wenn ich im Westen bin, fühle ich mich nackt“, sagte Murathan Mungan einmal bei einer Lesung in Deutschland. „Die Meister, die vor mir geschrieben haben, fehlen mir und der Schatten, den sie auf mich werfen.“ Murathan Mungan verarbeitet den Stoff aus arabisch-kurdisch-alevitischen Legenden und Liedern zu moderner Literatur. „Gedächtnis des Ostens“ nennt Mungan diesen Stoff, der über Jahrhunderte tradiert wurde.
Die Türkei ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Das Land der Geschichten und Erzählungen. Es heißt, wenn drei Türken sich treffen, seien vier Dichter darunter. Aber was wissen wir in Deutschland schon über die zeitgenössische türkische Literatur? Kein Wunder also, dass einer der bekanntesten und populärsten zeitgenössischen Schriftsteller der Türkei – manche sagen ein „Kultautor“ – mit Auflagen weit über 100.000, in Deutschland noch weitgehend unbekannt ist.
Literarisch gesehen war es ein besonderes Jahr, in dem Murathan Mungan geboren wurde: 1955 erschien „Memed, mein Falke“, und mit einem Schlag wurde Yasar Kemal in der Türkei bekannt. Kemal, heute unumstritten der große alte Herr der türkischen Literatur, hat in seinem Werk immer wieder auf die Epen seiner Kindheit, auf die anatolischen Mythen und Heldensagen, zurückgegriffen. Auch Murathan Mungan schöpft aus diesem Geschichtenschatz.
In der Metropole Istanbul geboren, wuchs Mungan in der südostanatolischen Stadt Mardin auf. Das Miteinander von Muslimen, orthodoxen Christen, Aramäern und Yeziden in Mardin habe ihm eine Art Gefühl von Demokratie in ganz einfachem Sinn vermittelt, schrieb er später über seine Kindheit. Die südostanatolische Stadt Mardin, nahe der syrischen Grenze, ist Teil des antiken Mesopotamiens und birgt bis heute sichtbare Spuren von verschiedenen Völkern und Religionen. Das Interesse an diesem multiethnischen und multilingualen osmanischen Erbe ist in Murathan Mungans Literatur lebendig. Sein erster Gedichtband „Osmanliya Dair Hikâyat“ („Geschichten über die Osmanen“) orientierte sich thematisch und sprachlich am Osmanischen. Die Erzählung „Der Großwesir und sein Bote“, erschienen in „Palast des Ostens“ – seinem bis zum August 2008 einzigen ins Deutsche übersetzten Buch –, handelt von den Ereignissen um den geheimnisvollen Tod von Sultan Mehmet II., dem Eroberer Konstantinopels.
Obwohl Murathan Mungan seine Themen aus der Mythologie und den Legenden des Orients schöpft, ist er moderner Großstädter durch und durch. Seine Helden sind Individuen, sie horchen in sich hinein, reflektieren ihre Ängste, empfinden Liebe oder auch Hass, stoßen an die Grenzen der Normen oder auch ihrer eigenen Möglichkeiten.
Auch Mungan selbst, der eigentlich von der Darstellenden Kunst kommt, in Ankara Theaterwissenschaft studiert und später als Dramaturg an verschiedenen türkischen Theatern gearbeitet hat, setzt sich über gesellschaftliche und politische Tabus hinweg. Als öffentliche Person tritt er aktiv für die Interessen der kurdischen Bevölkerung ein, kritisiert in Artikeln Verstöße gegen die Pressefreiheit und die Menschenrechte in der Türkei und bekennt sich öffentlich zu seiner Homosexualität. Mehr noch: Als ein Journalist ihn mit den Worten „Ich bin homosexuell“ zitiert, erklärt Mungan der Presse: Er sei nicht homosexuell, er sei schwul. Homosexualität bezeichne nur eine Form von Sexualität, Schwulsein sei aber eine Lebensauffassung.
Bisher sind von Murathan Mungan neben dem Erzählungsband „Palast des Ostens“ nur hier und da ein paar Geschichten ins Deutsche übersetzt worden. Dabei hat der 53-Jährige ein umfangreiches und vielfältiges Werk geschaffen: Gedichte vor allem, Romane, Geschichten, Theaterstücke und Hörspiele zählen dazu, sogar Liedtexte. Wer unter den türkischen Popstars etwas auf sich hält, hat ein Lied von ihm vertont; seine Gedichte kursieren in der Türkei als SMS-Mitteilungen, noch bevor sie abgedruckt worden sind. Jetzt erscheint pünktlich zu seinem Auftritt beim 28. Erlanger Poetenfest sein Roman „Tschador“ in deutscher Sprache: Ein junger Mann namens Akbhar kehrt darin nach Jahren des Exils in sein Heimatland zurück. Ängstlich, aber auch von Hoffnung getrieben, begibt er sich auf die Suche nach den Menschen, die er in seinem Herzen aufbewahrt hat: seine Mutter, seine Schwester, seine Jugendliebe. Ein neues Regime ist an der Macht, das Land sichtbar vom Krieg zerstört. Akbhar irrt von Tür zu Tür, von Stadt zu Stadt. Am meisten verunsichert ihn der allgegenwärtige Anblick verschleierter Frauen: Der Tschador wird zu einem Symbol der Entfremdung – und entwickelt doch eine magische Anziehungskraft.
Murathan Mungan präsentiert sich der Öffentlichkeit gern als Gesamtkunstwerk, dazu gehört auch eine gewisse Exzentrik: „Ich bin ein schauspielender Autor, ich verkörpere die Charaktere, über die ich schreibe. Wenn man in meinem Haus eine versteckte Kamera installierte und Sie mich beobachteten, wenn ich eine Geschichte schreibe, würden Sie mich wirklich für einen Geisteskranken halten.“
Sonntag, 31. August, 21.00 Uhr, Markgrafentheater
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