Kurt Drawert

„Wir liebten die Welt unter der Erde“ – mit dieser Behauptung beginnt Kurt Drawert seinen jüngsten Roman, der von einer ungewöhnlichen Erkundung der DDR erzählt. Die Reise führt buchstäblich in die Tiefe: Die „Deutsche D. Republik“ ist nämlich eine Art Höllentrichter. Drawert, bisher vor allem als Lyriker und Essayist bekannt, wurde 1956 in Henningsdorf/Brandenburg geboren, absolvierte nach einer Facharbeiterlehre für Elektronik das staatliche Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und veröffentlichte 1987 seinen ersten Gedichtband „Zweite Inventur“. Eine erweiterte Fassung kam zwei Jahre später in der Bundesrepublik unter dem programmatischen Titel „Privateigentum“ heraus. 1992 erschien sein Prosadebüt „Spiegelland. Ein deutscher Monolog“ über den Zusammenbruch der DDR. Der bekennende „Ostwessi“, der inzwischen in Darmstadt lebt, erhielt 1993 für seinen Prosatext „Haus ohne Menschen. Ein Zustand“ den Ingeborg-Bachmann-Preis, eine Klage über den Untergang der DDR, der von der Jury eine sprachlich originell verfasste „radikale Einsicht in Dinge und Verhältnisse“ bescheinigt wurde. Das Thema lässt Drawert bis heute nicht los: In seinem neuen Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ erteilt er einem Wiedergänger von Kaspar Hauser das Wort und lässt den klumpfüßigen, kleinwüchsigen Findling, der gleichwohl ein bemerkenswerter Frauenverführer ist, vom Verschwinden der DDR und der Zeit danach erzählen. Der „Kaspar der Revolution“ schildert sein abwechselnd ernstes, komisches, surreales Leben als eine rasante Höllenfahrt durch neun „Schuldbezirke“. Fußnoten unterfüttern den Haupttext und liefern teils aufschlussreiche, teils absurde Informationen: Man erfährt zum Beispiel, dass ein „Kollektiv“ eine Gruppe gewesen sei oder dass ein einheimischer Potenzblocker ein Exportschlager gewesen sei, vor allem in die Mongolei. Wie bei seinem historischen Vorbild gibt es einen Arzt namens Feuerbach. Unser Gewährsmann schlägt sich als Titelaufschreiber, Magazinläufer und Nachtwächter durch, bis es mit der Höhlenrepublik plötzlich vorbei ist und der „ostdeutsche Erdling“ an der Grenze zum feindlichen Ausland an die Oberfläche vordringt. Die DDR als Geisterbahn. (M. A.)
Auszeichnungen u. a.: Leonce-und-Lena-Preis (1989), Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung (1991), Lyrikpreis Meran, Stadtschreiber von Meran, Ingeborg-Bachmann-Preis (1993), Uwe-Johnson-Preis (1994), Villa Massimo-Stipendium (1995/96), Nikolaus-Lenau-Preis (1997), Arno-Schmidt-Stipendium (2000/01), Otto-Braun-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar (2001), Rainer-Malkowski-Preis (2008).

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Zweite Inventur“, Gedichte, Aufbau, Berlin 1987
– „Privateigentum“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989
– „Spiegelland. Ein deutscher Monolog“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992
– „Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften“, Essays, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993
– „Fraktur“, Lyrik, Prosa, Essay, Reclam, Leipzig 1994
– „Alles ist einfach. Stück in sieben Szenen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Wo es war“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1996
– „Steinzeit. Lustspiel“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998
– „Nacht. Fabriken. Hauser-Material und andere Prosa“, Ed. Korrespondenzen, Wien 2001
– „Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001
– „Frühjahrskollektion“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002
– „Emma. Ein Weg“, Sonderzahl, Wien 2005
– „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“, Roman, C. H. Beck, München, Juli 2008


Samstag, 30.8., 14.30 Uhr, Schlossgarten