Hansjörg Schertenleib „Ich will mein Leben kennen, nicht neu erfinden“, sagt Niamh, 64-jährige Irin mit makellosen Deutsch-Kenntnissen, als sie einem Schweizer Schriftsteller die eigene Biografie enthüllt. Der jedoch bleibt zunächst in eigenen Problemen gefangen: Seine Frau, mit der zusammen er nach Irland ausgewandert ist, hat ihn zu Gunsten eines anderen verlassen. Im Zorn zertrümmert er das gemeinsame Bett mit dem Vorschlaghammer. Der zurückgebliebene Papagei nervt mit schweizerdeutschen Sentenzen, das Arbeitszimmer wird von einem Bienenschwarm heimgesucht, und ein Workshop zur Restauration des männlichen Selbstwertgefühls erweist sich als eher kurios denn als hilfreich.Doch Niamh, die er beim Einkaufen kennenlernt, womit er sich als Außenseiter entlarvt („Der irische Mann kauft nicht ein, es sei denn, er hat keine Frau und seine Mutter ist gestorben.“), bringt frischen Wind ins Leben des Gestrauchelten. Für sich genommen erscheint ihre Biografie zwar ungewöhnlich – drei Jahrzehnte lebte sie als Hausangestellte bei einem deutschen Buchhändler –, doch keineswegs so exemplarisch, um zwingend zum literarischen Stoff zu werden; der Schriftsteller ist darum unschlüssig, was er mit dem Erzählten machen soll. Stück um Stück erweist sich jedoch, dass es Niamh nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart geht: „Das Regenorchester“, Hansjörg Schertenleibs neuer Roman, ist kein minutiöses Protokoll eines abgelaufenen Lebens, sondern berichtet vom Sterben und Abschiednehmen. Dass die Kettenraucherin Niamh dabei resolut und unsentimental mit ihrem bevorstehenden Ende umgeht, macht den Text ungewöhnlich – und gibt dem Ich-Erzähler zum Schluss die Kraft, seine kleine, persönliche Misere im milderen Lichte zu sehen. Ein literarisches Memento mori mit ganz eigenem Charme. (F. F. W.) Hansjörg Schertenleib wurde 1957 in Zürich geboren. Nach einer Ausbildung zum Schriftsetzer/Typograph wohnte er in Norwegen, Dänemark, Wien und London. Er arbeitete als Kritiker bei verschiedenen Zeitschriften, als Übersetzer und freier Autor, schrieb Theaterstücke, Hörspiele, Gedichte, Erzählungen und Romane. Seit 1996 lebt er in County Donegal in Irland. Auszeichnungen u. a.: Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (1983), Buchpreis der Stadt Zürich (1991), Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994), Kranichsteiner Literaturpreis (1995), Buchpreis der Stadt Zürich (1996), Stadtschreiber von Minden (1997), Max-Kade-Writer-in-residence am MIT, Boston (2007), Writer-in-residence in Kapstadt, Südafrika (2009). Veröffentlichungen (Auswahl): – „Grip. 3 Erzählungen“, Benziger, Zürich/Köln 1982 – „Die Ferienlandschaft“, Roman, Benziger, Zürich/Köln 1983 – „Die Prozession der Männer. 5 Erzählungen“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1985 – „Die Geschwister“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1988, TB Aufbau, Berlin, August 2008 – „Der stumme Gast. Gedichte“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989 – „Der Antiquar“, Erzählung, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991, TB Aufbau, Berlin 2007 – „Das Zimmer der Signora“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, TB Aufbau, Berlin 2004 – „November. Rost. Gedichte“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997 – „Die Namenlosen“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, TB Aufbau, Berlin 2002 – „Von Hund zu Hund. Geschichten aus dem Koffer des Apothekers“, Erzählungen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, TB Aufbau, Berlin 2003 – „Der Papierkönig“, Roman, Aufbau, Berlin 2003, TB ebd. 2005 – „Der Glückliche“, Novelle, Aufbau, Berlin 2005, TB ebd. 2006 – „Das Regenorchester“, Roman, Aufbau, Berlin, August 2008 Sonntag, 31.8., 15 Uhr, Schlossgarten |
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