Ursula Krechel Die chinesische Frühlingsrolle ist ein österreichischer Apfelstrudel mit Gemüsefüllung, mithin ein europäischer Esskulturexport. Davon wird – jenseits anders lautender Lexikoneinträge – jeder Leser des Romans „Shanghai fern von wo“ nach der Lektüre überzeugt sein. Franziska Tausig, jüdische Rechtsanwaltsgattin aus Wien, findet Zuflucht im „Internationalen Settlement“ Shanghai, schlägt sich dort als Köchin durch und erfindet en passant die Frühlingsrolle ... als hätten die Chinesen schon immer auf diese kulinarische Offenbarung gewartet.Shanghai – das war Ende der 30er-Jahre einer der ganz wenigen Orte der Erde, den Flüchtlinge aus Europa ohne Visum erreichen konnten. So kamen rund 18.000 Emigranten in die Stadt mit dem drückend feuchtwarmen Wetter, und schon die Namen der Romanfiguren verraten ihre mannigfaltigen, nicht bloß klimatischen Anpassungsschwierigkeiten: Max Rosenbaum, Lothar Brieger, Ludwig Lazarus, Annette Bamberger ... es sind vornehmlich Intellektuelle aus dem Berliner und Wiener Bürgertum, die bereits die Ankunftsfrage der Shanghaier Behörden in Unruhe versetzt: „Was können Sie?“ (statt „Welchen Beruf haben Sie?“), Diplome und Zeugnisse zählen wenig, praktische Fertigkeiten hingegen viel. Der Uhrmacher kommt besser durch als der Anwalt, der Arzt besser als der Buchhändler – doch auch der, Zyniker von Gnaden, findet sein Auskommen mit einem fliegenden „European Bookstore“ im Bauchladenformat, beherzigt er doch ein jüdisches Bonmot: „Du musst überleben, auch wenn es dich umbringt.“ Aus Zeitzeugenberichten und Interviews hat Ursula Krechel ein vielstimmiges Konzert komponiert, das diesen vergessenen Emigrationsschauplatz eindrucksvoll wieder auferstehen lässt. Sie setzt den Überlebenden und den Toten ein längst überfälliges Denkmal und mahnt die Nachgeborenen, ihre Biografien nie für abgeschlossen zu halten: „Ein wohlhabendes Elternhaus, eine gesicherte Zukunft, das hätte ausgereicht, einen Menschen wie mich lebenslänglich untüchtig zu machen“, sagt Ludwig Lazarus, der Buchhändler. Am Ende ist er der Tüchtigste von allen. (F. F. W.) Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück „Erika“, das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Auszeichnungen u. a.: Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1986, 1992), Internationaler Eifel-Literatur-Preis (1994), Edenkoben-Stipendium des Landes Rheinland-Pfalz (1995), Leiterin der Werkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin (1998–2001), Hermann-Hesse-Stipendium der Stadt Calw (2006), Rheingau Literatur Preis (2008). Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): – „Rohschnitt. Gedicht in sechzig Sequenzen“, Luchterhand, Darmstadt u. a. 1983 – „Vom Feuer lernen“, Gedichte, Luchterhand, Darmstadt 1985 – „Kakaoblau. Gedichte für Erwachsende“, Residenz, St. Pölten 1989 – „Die Freunde des Wetterleuchtens“, Erzählungen, Luchterhand, Frankfurt a. M. 1990 – „Technik des Erwachens. Gedichte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 – „Mit dem Körper des Vaters spielen. Essays“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 – „Sizilianer des Gefühls“, Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993 – „Landläufiges Wunder. Gedichte“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995 – „Ungezürnt. Gedichte, Lichter, Lesezeichen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997 – „Verbeugungen vor der Luft“, Gedichte, Residenz, St. Pölten 1999 – „Der Übergriff“, Erzählung, Jung und Jung, Salzburg 2001 – „Stimmen aus dem harten Kern. Gedicht“, Jung und Jung, Salzburg 2005 – „Mittelwärts“, Gedichte, zu Klampen!, Springe 2006 – „Shanghai fern von wo“, Roman, Jung und Jung, Salzburg, August 2008 Sonntag, 31.8., 16.30 Uhr, Schlossgarten |
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