Marcel Beyer

„Leben heißt beobachten“. Marcel Beyer, dem 1995 mit dem Roman „Flughunde“ ein „Klassiker“ über das Ende Nazi-Deutschlands gelungen ist, hat mit „Kaltenburg“ wieder eine Geschichte Deutschlands geschrieben: von der atemberaubend dargestellten Zerstörung Dresdens im Februar 1945 über das alltägliche Leben in der DDR bis hin zur Wendezeit. Beschrieben wird das Leben Ludwig Kaltenburgs, ein 1903 geborener prominenter Wiener Ornithologe, der in Dresden lebt und durch seine Dohlenforschung weltbekannt wurde. Kaltenburgs Geschichte berichtet sein Mitarbeiter, Hermann Funk. Funks Eltern sind, als dieser ein elfjähriger Junge war, im Dresdner Bombenhagel umgekommen. Seit damals ist Funk „jeglicher Vorstellung von sich selbst beraubt“ und somit der ideale Beobachter. Hermann Funk ist ein tastender Erzähler, kein selbstsicherer Schwadronierer, sondern einer, der oft „vielleicht“ sagt.
Professor Kaltenburg hat eindeutige und beabsichtigte Ähnlichkeiten mit dem bekannten Wiener Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989). Lorenz war Nationalsozialist, lehrte vor dem Krieg Psychologie in Königsberg und war während des Krieges in einem Posener Lazarett an „rassenhygienischen“ Menschenversuchen beteiligt. Lorenz’ Vorlesungen besuchten der angehende Tierfilmer und Wehrmacht-Ausbilder Heinz Sielmann und der Rekrut Joseph Beuys. In Marcel Beyers Roman tauchen all diese Figuren unter anderem Namen auf, beobachten, begleiten und kommentieren den zurückgezogen in Dresden forschenden Wissenschaftler, der im Land des Antifaschismus mit seiner braunen Vergangenheit ringt. In „Kaltenburg“ gibt Marcel Beyer die Atmosphäre in der „schweigenden“ DDR wieder. Man schottet sich ab, widmet sich der Forschung oder liest, wie das Klara, Hermann Funks Frau tut, obsessiv die Werke von Marcel Proust. Der Roman über Kaltenburg, einen fiktiven Helden, ist ein Buch über Repression, Angst und Spitzeltum. Für Kaltenburgs zurückgezogenes Leben gibt es eine Antwort: Schuld und Angst. Kaltenburg nennt die Angst eine „arterhaltende Kraft“. Marcel Beyers eindrücklicher Roman über die Verstrickungen der Wissenschaft in das System Nazi-Deutschland ist grausam nüchtern und mit größter Ruhe erzählt. Zu Recht wurde der in Dresden lebende Schriftsteller kürzlich mit dem Joseph-Breitbach-Preis geehrt. (V. A.)
Auszeichnungen u. a.: Nordrhein-Westfälischer Literaturpreis (1987), Ernst-Willner-Preis (1991), Förderpreis des Landes NRW, Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin (1992), Aufenthaltsstipendium Schloss Wiepersdorf (1995), Berliner Literaturpreis (1996), Uwe-Johnson-Preis (1997), New-York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1999), Jean-Paul-Literaturförderpreis der Stadt Bayreuth, Poetik-Gastprofessur der Universität Bamberg (2000), Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2001), Friedrich-Hölderlin-Preis (2003), Spycher: Literaturpreis Leuk (2004), Stipendium des Deutschen Literaturfonds, Erich-Fried-Preis (2006), Joseph-Breitbach-Preis (2008). Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums.

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Obsession“, Prosa, Okeanos Press, Bonn 1987
– „Walkmännin. Gedichte 1988/1989“, Patio, Frankfurt a. M. 1990
– „Das Menschenfleisch“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, TB ebd. 1997
– „Brauwolke“, Gedichte, zus. mit Klaus Zylla und John Gerard, Warnke, Berlin 1994
– „Flughunde“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995
– „Falsches Futter“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997
– „Spione“, Roman, DuMont, Köln 2000, TB Fischer, Frankfurt a. M. 2002
– „Erdkunde“, Gedichte, DuMont, Köln 2002
– „Nonfiction“, DuMont, Köln 2003
– „Vergeßt mich“, Erzählung, DuMont, Köln 2006
– „Kaltenburg“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008


Samstag, 30.8., 16.30 Uhr, Schlossgarten