Ulrike Draesner

„Ein Gedicht ist ein Meteor“, hat der amerikanische Lyriker Wallace Stevens einmal gesagt. Er hätte hinzufügen können: Ein Gedicht kann auch ein Kugelblitz sein. Kugelblitze sind ursprünglich schwebende, glühende Lichtobjekte, die als rätselhaftes atmosphärisches Phänomen in unser Leben eintreten und es für einige Momente grell erleuchten. Die Leuchtkraft solcher Illuminationen beansprucht die in Berlin lebende Erzählerin, Essayistin und Lyrikerin Ulrike Draesner auch für ihre Dichtkunst. „kugelblitz“ hieß ihr vorletzter, 2005 erschienener Gedichtband, dem jetzt ein weiteres Wunder an Illuminationskunst folgt – das druckfrisch zum Poetenfest vorliegende Gedichtbuch „berührte orte“. Ulrike Draesners Gedichte sind immer Erkenntnis-Reisen, Expeditionen in die Zentren der Wahrnehmung, in die Grenzzonen des Körpers und in eine plötzlich leuchtende Außenwelt. In „berührte orte“ durchquert die Autorin mythisch aufgeladene Orte wie Damaskus und Casablanca, lässt sich von den historischen, religiösen und medialen Phantasmen dieser Metropolen inspirieren, um dann deren Wirklichkeit in der Sprache des Gedichts neu zu erfinden.
Die 1962 geborene Autorin, die seit 1996 in Berlin lebt, ist eine klassische poeta docta, die nicht einfach die Sehnsüchte des 21. Jahrhunderts im alten Metaphernrepertoire der Liebesdichtung abbildet, sondern unsere Emotionen und Affekte immer in Beziehung zu den neuesten Erkenntnisrevolutionen in den Natur- und Humanwissenschaften setzt.
In Rhythmus, Bild und Sprache – so hat es Draesner in einem ihrer Essays beschrieben – ist das Gedicht „der Extrakt eines körperlichen Zustandes“, der nicht durch „simple Story-Wirklichkeit“ sichtbar gemacht werden könne, sondern nur durch „Störungen“ der semantischen Ordnung, durch „den krakeelenden oder tanzenden oder hüpfenden Schritt“ der Gedicht-Zeile. Ihre „soma-ma-tischen träume“ von den labilen Aggregatzuständen der Körper bebildern die Gedichte dabei in sehr üppiger Weise mit den Fachbegriffen aus Chemie, Biologie, Physik und den Molekularwissenschaften.
Dass die Autorin ihre Gelehrsamkeit weder in den Gedichten noch in ihren Romanen verschweigt, sollte man ihr nicht reflexhaft als Eitelkeit anlasten, sondern als Qualitätsmerkmal ihrer Literatur verbuchen. Denn die systematische Konfrontation der alten metaphorischen Vokabulare der Poesie mit den Fachsprachen der Wissenschaft erzeugt in diesem Fall nicht nur semantische Reibungshitze, sondern auch einen Zugewinn an Präzision. „Wo stehen wir“, so fragt Ulrike Draesner – und gibt folgende Antwort: „zerschredderte Subjekte, Subjekte als Buchstabenhaufen in merkwürdigen Verbindungen mit Tieren, Apparaten, Gespenstern und Erdnussschalen. Religion als Trost und Müll, Mythos und Show. Aber noch klebt ein Stückchen Wahrheit daran, ist ein Rest zu sehen.“ Diesem „Stückchen Wahrheit“ bringen uns die Gedichte Ulrike Draesners näher. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Solitude-Förderpreis (1996), Bayerischer Staatsförderpreis für Literatur (1997), Poetik-Dozentur Birmingham (1998), Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (2001), Preis der Literaturhäuser (2002), Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik, Arbeitsstipendium für Berliner Autoren (2005), Droste-Preis der Stadt Meersburg (2006), Gastprofessur am Literaturinstitut der Universität Leipzig (2006/07). Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland.

Veröffentlichungen (Auswahl):
– „gedächtnisschleifen“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995, TB Luchterhand, München 2008
– „anis-o-trop“, Sonette, Rospo, Hamburg 1997
– „Lichtpause“, Roman, Volk & Welt, Berlin 1998
– „Reisen unter den Augenlidern“, Erzählungen, Ritter, Klagenfurt 1999
– „für die nacht geheuerte zellen“, Gedichte, Luchterhand, München 2001
– „Mitgift“, Roman, Luchterhand, München 2002, TB btb, München 2005
– „Hot Dogs“, Erzählungen, Luchterhand, München 2004, TB Goldmann, München 2006
– „kugelblitz“, Gedichte, Luchterhand, München 2005
– „Spiele“, Roman, Luchterhand, München 2005, TB btb, München 2007
– „mittwinter“, Gedichtzyklus, Quetsche, Witzwort 2006
– „Zauber im Zoo. Vier Reden von Herkunft und Literatur“, Wallstein, Göttingen 2007
– „Schöne Frauen lesen. Über Ingeborg Bachmann, Annette von Droste-Hülshoff, Friederike Mayröcker, Virginia Woolf u. v. a.“, Essays, Luchterhand, München 2007
– „berührte orte“, Gedichte, Luchterhand, München, September 2008


Samstag, 30.8., 17.30 Uhr, Schlossgarten und Sonntag, 31.8., 14.30 und 17.30 Uhr, Orangerie

 

Website:
www.draesner.de